Europas Green Deal muss Corona-fit gemacht werden: 

Der Green Deal ist ein Krisenbewältigungsprogramm. Jetzt muss er eben für eine Krisensituation mit zweierlei Ursachen weitergedacht werden.

Die neue Europäische Kommission hat nur wenige Wochen nach ihrem Antritt mit dem „European Green Deal“ ihr Flaggschiffprojekt präsentiert. Ein visionäres, umfassendes Konzept, das den Anspruch erhebt, wirtschaftlichen Erfolg, Innovationskraft und „Klimaneutralität“ unter dem Dach einer „Circular Economy“ zu vereinen.

Die Umstellung der Energieversorgung auf – letztlich – sonnenbasierte Quellen ist ebenso inhärenter Bestandteil dieser Strategie wie das Forcieren von Stoffkreisläufen, in denen Materialien von der Produktion über die (möglichst lange) Nutzung bei möglichst gleichbleibender Qualität wieder zur Produktion zurückgeführt werden. Forcierte Forschung und Entwicklung in Bereichen wie „grüne Chemie“, Produkt- und Prozessdesign sollen Garanten dafür sein, Europa als Wirtschafts- und Innovationsstandort an der Weltspitze zu positionieren. Das Konzept des Green Deal fußt zudem auf einer starken Vernetzung von produzierender/verarbeitender Industrie mit dem Dienstleistungssektor, greift die Chancen der Digitalisierung auf und beinhaltet die breite Forcierung innovativer Geschäftsmodelle. Etwa „Product as a Service“-Ansätze: Wird wirtschaftlicher Erfolg nicht mehr an der Menge verkaufter Produkte gemessen (etwa Liter an Reinigungsmitteln), sondern am Absatz der von den Produkten erbrachten Leistung (gereinigte Fläche), macht das effizienten Einsatz der Produkte für alle Beteiligten zu einem erstrebenswerten Ziel.

Dieses so wie viele weitere Geschäftsmodelle in einer „Circular Economy“ bedeuten für innerbetriebliche Abläufe wie für das Unternehmen selbst und seine Geschäftspartner oft eine komplette Neuorientierung. Rohstoffeinsatz, Anwendungstechnologien, Qualitätskriterien und deren Erfassung, Erfolgsparameter – all dies steht zur Disposition. Daher plant die Kommission, das Unionsbudget und flankierende Instrumente dementsprechend auszurichten, um die Zielerreichung des „Green  Deal“ sicherzustellen und die notwendigen, teils massiven Umstellungen des Wirtschaftssystems bestmöglich zu begleiten.

 

Corona-Schock bewältigen

Angesichts der Belastung für die Haushalte der Union und ihrer Mitgliedstaaten, welche durch die Bewältigung der Coronakrise verursacht wird, ist es nicht verwunderlich, dass erste Stimmen laut wurden, die nach einer Neuausrichtung der Investitionspolitik der Union rufen und den Green Deal verschieben wollen. Und es ist mehr als verständlich und nachvollziehbar, dass dem Wiedererstarken der Betriebe und des Wirtschaftssystems besonderes Augenmerk zu widmen sein wird. Die während und nach der Finanzkrise entwickelten Mechanismen werden ihre nächste Bewährungsprobe erfahren, redimensioniert und treffsicher gestaltet werden müssen, um die notwendige Liquidität der geschwächten Betriebe bestmöglich zu stützen.

 

Es ist kein Entweder-Oder

Man sollte bei dieser Debatte nicht aus dem Blick verlieren: Auch der Green Deal entstand angesichts einer globalen Krise und ist als europäische Antwort auf diese gedacht. Die sich abzeichnenden Konsequenzen, sollten die vereinbarten Klimaschutzziele verfehlt werden, können in ihrer Dramatik locker mit einer Pandemie Schritt halten. Der Green Deal ist also ein Krisenbewältigungsprogramm – jetzt muss er eben für eine Krisensituation mit zweierlei Ursachen weitergedacht werden. Zudem hat dieses Programm auch den Erhalt natürlicher Lebensräume und ihrer Artenvielfalt im Blick. Während der letzten Wochen rückten Befunde verstärkt in den Fokus, die belegen, dass intakte Ökosysteme auch vor der Ausbreitung von Pandemien Schutz bieten. Erhalt von Lebensraum und Biodiversität stärkt die Resilienz der Lebensgemeinschaften und Fitness der Individuen – beides senkt das Risiko eines Ausbruchs von viralen Infektionskrankheiten. Es muss gelingen, die durch Corona notwendig gewordenen Schritte mit der Umsetzung des Green Deal zu koppeln.

Während des kommenden Jahrzehnts werden gemäß dem „European Green Deal Investment Plan“ insgesamt Finanzmittel von einer Billion Euro (!) mobilisiert werden, um diese Transformation in Richtung Kreislaufwirtschaft zu stemmen. Das EU-Budget selbst wird ungefähr die Hälfte dieser Mittel dazu beitragen und ergänzt werden um nationale Kofinanzierungen, Investment Fonds und weitere Finanzierungsmechanismen. Vor dem neuen Hintergrund entsteht also die nicht zu unterschätzende politische Herausforderung, die Zielsetzungen des Green Deal mit den zur Bewältigung des Corona-Schocks nötigen Belebungsmaßnahmen in Einklang zu bringen.

„Back to normal“ mag als Wunschvorstellung naheliegen, ist aber als strategische Zielsetzung zu schlicht und mutlos. Der „Weg zurück“ muss gestaltend und politisch ausgerichtet werden. Die Rückkehr zum Geschäftsbetrieb bedeutet für Unternehmen, „eingefrorene“ oder reduzierte Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten, Geschäftspartnern und Kunden wieder aufzunehmen respektive hochzufahren. Da mögen in der Vergangenheit ohnehin Pläne einer Neuausrichtung im Sinn der Zielsetzung des Green  Deal bestanden haben. Pläne, zumindest neben dem produktbasierten Teil des Geschäfts auch eine leistungsbezogene Variante anzubieten und dabei ein Profit-Sharing-Model mit dem Kunden zu etablieren, um gemeinsam von der gesteigerten Ressourceneffizienz zu profitieren. Oder Pläne, die Kooperation mit den Kunden durch Anwendung eines digitalen Systems zur Kontrolle der Verarbeitungs- oder Produktionsprozesse (etwa von Chemikalien) zu intensivieren. Oder vielleicht doch dieses Joint Venture mit dem Anlagenhersteller zu probieren, um durch die Kooperation der Entwicklungsabteilungen von Hersteller und Anwender echte Synergien heben zu lassen. Im bisherigen Geschäftsjahr war vielleicht zu wenig Kapazität da, um den neuen Syntheseweg oder den regenerierbaren Rohstoff oder den Einsatz von Recyclingmaterial zu erproben, oder es (als Hotelbetrieb) einmal wirklich mit ausschließlich regionalen Bioprodukten zu probieren. Jetzt böte sich die Gelegenheit für einen Versuch.

Der Green Deal muss jetzt rasch auch als das begriffen und ausgestaltet werden, was er in dieser Situation sein kann: ein intelligentes, flexibles System, das die derzeitige Phase der oft höheren Freiheitsgrade von Entscheidungen effektiv und aktiv für die richtigen Weichenstellungen nützt.

Es zeigt sich in diesem Zeitfenster ein geradezu zwingendes Potenzial, die unbestritten notwendigen Unterstützungsmaßnahmen zur Corona-Schock-Bewältigung mit jenen auf strategische Innovation hin ausgerichteten Instrumentarien des Green Deal zu verschränken und so starke Akzente  für eine  Orientierung zu einer „Circular Economy“  hin zu schaffen. Ein dementsprechend strukturiertes Mandat für eine oder mehrere bestehende EU-Institutionen, dies zu planen und zu koordinieren, sollte umgehend von der Kommission vorgeschlagen und dann von Rat und Parlament beschlossen werden.

 

DIE PRESSE Gastkommentar von Thomas Jakl

https://www.diepresse.com/5801161/europas-green-deal-muss-corona-fit-gemacht-werden?fbclid=IwAR3YQe_fNpnm79-6rpPWvaYuGFjlMiCThZ51Cq-KjrCb_NDVzB3jFp0zaWI#kommentare

Thomas Jakl (* 1965) ist Biologe und Erdwissenschaftler. Er arbeitete bis 1991 an der Uni Wien, wechselte dann ins Umweltministerium.

Inzwischen ist er in leitenden Funktionen im Bereich des Umweltschutzes in verschiedenen nationalen und internationalen Institutionen tätig. Unter anderem ist er Mitglied des Vorstandes des Forums Wissenschaft und Umwelt; er war Vorsitzender des Verwaltungsrates der EU-Chemikalienagentur.

https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de