Woran wir ein zukunftsfähiges Dorf erkennen: Von Reinsberg lernen
Veröffentlicht am 24. Juni 2022
von Stefan Hackl, Geschäftsführer bei Eisenstraße Niederösterreich.
Vorbemerkung Hans Rupp:
Starker Artikel. Eine Expertise und eine Analyse, wie sie nur von jemandem sein kann, der VERBUNDEN ist. Ich meine: Pflichtlektüre für alle regionalen und lokalen Gestalter*innen!
Ein Dorf ist die ideale Einheit, um die Welt zu einem besseren Platz zu machen. Dieser Satz kam mir in dem Sinn, als ich am vergangenen Sonntag der Eröffnung des neuen Dorfzentrums in der 1.000-EinwohnerInnen-Gemeinde Reinsberg in Niederösterreich beiwohnen durfte. Ich habe selten so viel Zuversicht, Talent, Engagement und Stolz – gebündelt an einem Ort – gesehen.
In einem 10-jährigen Prozess hat es die kleine Ortschaft geschafft, ihrem Ortskern ein komplett neues Gesicht zu geben: mit einem mit 40.000 Schindeln bedeckten Kulturhaus namens MUSIUM, mit einem zu 100 Prozent aus EU- und Landesmittel finanzierten Kindergarten, mit einer frisch restaurierten Kirche und einem Dorfplatz, der all das miteinander verbindet. Das ist noch nicht alles: Heuer wird mit dem Neubau des auf Vereinsbasis geführten Nahversorgers begonnen und ein betreutes Wohnhaus mit 24 Einheiten wird zeitnah ebenfalls mitten im Ort aus dem Boden wachsen.
Wie schaffen das die Reinsberger, die schon vor mehr als 20 Jahren den Europäischen Dorferneuerungspreis gewonnen haben und in deren Gemeinde so viele junge Menschen wie in keinem anderen Ort der Umgebung leben? Und vor allem: Was können wir von Reinsberg lernen? Lassen sich aus dem Reinsberger Modus operandi Punkte ableiten, die zukunftsfähige Gemeinden auszeichnen?
Die Reinsberger sind nicht digitaler, progressiver, reicher oder innovativer als andere Orte. Ich glaube, sie und andere zukunftsfähige Dörfer zeichnen sich stattdessen durch eine Kombination von sechs durchaus traditionellen Merkmalen aus, die miteinander eine unglaubliche positive Gestaltungskraft entfalten und zu einem hohen Maß an Zukunftsfähigkeit führen.
Diese sechs Faktoren sind wie Stellschrauben, an denen Gemeindeverantwortliche drehen können, um Innovationen zu ermöglichen oder um Blockaden zu lösen:
- TALENT
Leitfrage: Gelingt es uns, die Talente unserer Dorfgemeinschaft zu nutzen?
Dieser Punkt reicht weit über die herkömmlichen Vorstellungen von Bürgerbeteiligung hinaus. Es geht nicht bloß darum, BürgerInnen im Rahmen einer Zukunftswerkstatt oder ähnlicher Formate punktuell abzuholen, einzubinden, zu befragen. Zukunftsfähige Dörfer machen das auch, aber sie schaffen es darüber hinaus, die Talente, Spezialisierungen und Fertigkeiten ihrer Dorfgemeinschaft viel regelmäßiger und intensiver zu nutzen und inwertzusetzen.
Ein Beispiel: Bei der Eröffnung des Reinsberger Kulturhauses wurde ein professionell geschnittener, mit Drohnenaufnahmen gespickter Zeitraffer-Film über die Baustelle gezeigt, in atemberaubenden Perspektiven, sodass man ein großes Filmteam dahinter vermuten würde. Gestaltet hat es aber ein Mitglied aus der Dorfgemeinschaft, in dem er sein Talent als Videoproducer eingebracht hat.
Dutzende weitere solcher Beispiele könnte man für Reinsberg anführen und sie allesamt zeigen: Ein zukunftsfähiges Dorf hofft nicht auf das indifferente Engagement seiner BürgerInnen, es engagiert sie. Aktiv und konkret. Und diese bringen ihre Talente und Fertigkeiten gerne ein. So wird das Dorf zur kollaborativen Unternehmung mit einem Überangebot an Talenten.
Wenn Sie also auf die Frage, wer in Ihrem Dorf in bestimmten Bereichen wirklich spitze und herausragend ist, wenige Antworten wissen oder wenn Sie die Exzellenz und das Engagement dieser Menschen in Projekten oder Veranstaltungen noch zu wenig nutzen, dann besteht Handlungsbedarf.
- AGENDA
Leitfrage: Arbeiten wir an Vorhaben, die uns nach vorne bringen und wachsen lassen, die ehrgeiziger und größer als das Tagesgeschäft sind, an Dingen, mit denen sich Menschen identifizieren können?
Zukunftsfähige Dörfer besitzen die Fähigkeit, ihre Energie auf einige wenige Dinge hin zu bündeln. Sie schaffen es, eine Agenda aufzustellen und durchzusetzen, in der die „größtmögliche gemeinsame Herausforderung“ im Mittelpunkt steht (eine wunderschöne Formulierung von Christoph Engl, dem Mastermind der Marke Südtirol und heutigen Oberalp-CEO).
Der Reinsberger Gemeinderat hat 2012/2013 diese „größtmögliche gemeinsame Herausforderung“ für das Dorf identifiziert: die Neugestaltung der Dorfmitte mit einem Investitionsvolumen von 10 bis 12 Millionen Euro. Das mag damals größenwahnsinnig geklungen haben, wie sich Bürgermeister Franz Faschingleitner bei der Eröffnung erinnerte, aber es war eine lohnenswerte Agenda, die mitriss.
Ein zukunftsfähiges Dorf ist demnach an ihrer Agenda, ihrer Projektliste zu erkennen. Es arbeitet immer an etwas Großem, Bedeutungsvollen für die eigene Dorfgemeinschaft und hat den Mut, dem weniger Bedeutsamen weniger Beachtung zu schenken. Ist der eine große Brocken geschafft, hat es schon den nächsten im Blick.
Wenn die Agenda Ihrer Gemeinde nur in der Abwicklung des Tagesgeschäfts besteht, dann haben Sie in diesem Punkt ein deutliches Defizit. Fragen Sie sich: Gibt es ein oder mehrere Projekte, hinter dem sich viele Menschen unserer Gemeinde versammeln, das vielen von uns wichtig ist? Sind wir bereit, Großes anzupacken und dabei auch ein Risiko einzugehen?
- HALTUNG
Leitfrage: Sind wir genügend selbstbewusst und ausreichend selbstkritisch?
Zukunftsfähigen Dörfern mag es mitunter an finanziellen Mitteln mangeln, an einem fehlt es ihnen bestimmt nicht: an Selbstbewusstsein. Die Einwohnerinnen und Einwohner sind stolz, Teil dieser Gemeinde zu sein und sie scheuen sich auch nicht davor, das sehr klar zu artikulieren. Beim Festakt in Reinsberg hörte ich nicht nur einmal, dass die Gemeinschaft in Reinsberg etwas Besonderes sei.
Zukunftsfähige Orte brauchen genau diese innere Überzeugtheit und diese positive Grundhaltung: Dort, wo andere jammern, packen sie an. Dort, wo andere resignieren, fangen sie erst richtig an.
Stagnierende oder gar resignierende Dörfer haben diese Qualität nicht: Hier regiert eine latent-depressive Grundstimmung: Wir verlieren, wir geraten ins Hintertreffen, heute ist es schlechter als gestern und morgen wird es noch trostloser als heute sein.
Mit bloßer „Mia san mia“-Mentalität darf man diesen selbstbewussten Charakterzug von zukunftsfähigen Dörfern nicht verwechseln. Stolz geht hier mit einer gesunden Portion Selbstkritik einher. Als der Reinsberger Bürgermeister Franz Faschingleitner die Projektgeschichte vom Dorfzentrum erzählte, klang das nicht nach einer schöngefärbten Jubeladresse, sondern nach einer Darstellung mit vielen Höhen und Tiefen.
Ein zukunftsfähiges Dorf sieht sich bei all den Schwierigkeiten und Herausforderungen immer selbst am Steuer – und nicht auf dem Schleudersitz der Geschichte. Mit diesem Vertrauen ausgestattet fällt es bedeutend leichter, Risiken einzugehen und Großes zu wagen (siehe Agenda).
Ein Lackmustest für die Haltung eines Dorfs ist oft das örtliche Diskussionsforum auf Social Media: Überwiegen hier die konkreten Tipps, die zu Handlungen motivierenden Beiträge oder jene des passiven Beklagens?
- ANBINDUNG
Leitfrage: Sind wir mit der Welt verbunden?
Ein zukunftsfähiges Dorf ist keine Insel, keine in sich-gekehrte heile Welt. Vielmehr versteht es meisterlich, sich in Netzwerke auf allen möglichen Ebenen einzuklinken. Wieder Reinsberg: Den ersten Plan für die neue Dorfmitte schmiedete die Dorfgemeinschaft mit dem international renommierten Architekturbüro nonconform. Den Tipp für die 100-Prozent-EU-Förderung erhielt der Bürgermeister von einem Landtagsabgeordneten.
Die Offenheit für neue Impulse, das Hereinholen externer Expertise bewahrt vor Engstirnigkeit und es erhöht die Umsetzungschancen und die Umsetzungsqualität der gemeinsamen Agenda.
Viel ist von der Breitbanderschließung des ländlichen Raums die Rede, aber die intellektuelle Anbindung eines Dorfs an die Welt ist ebenso, wenn nicht sogar noch wichtiger als ein 100-Mbit-Anschluss. Zweiterer kommt in der richtigen Konstellation gleichsam wie von selbst.
Woran sehe ich, ob mein Dorf „connected“ ist? Ein zukunftsfähiges Dorf ist in einem steten Austausch mit Schlüsselpersonen und -institutionen in dessen Region, Bundesland und darüberhinaus.
- WIR-MOMENTE
Leitfrage: Gibt es ausreichend Möglichkeiten der Begegnung, des gemeinsamen Feierns?
Am Eingang zum Festgelände in Reinsberg traf ich auf eine Bekannte, die freudig sagte: „Wir Reinsberger können halt feiern. Da können sich andere was abschauen!“ Da ist es wieder, das nicht zu klein geratene Selbstbewusstsein, aber in der Aussage verbirgt sich noch eine andere Qualität zukunftsfähiger Dörfer: Sie verstehen es, Wir-Momente zu schaffen – und das nicht als einmalige Kraftanstrengung (etwa zu einem Spatenstich), sondern in Serie geschaltet. So gibt es in Reinsberg die legendären Reinsberger Nächte, die Dorfweihnacht, das Dorffest …
Ein zukunftsfähiges Dorf kommt gerne und regelmäßig zusammen – bei Veranstaltungen, aber auch durch die Gestaltung des Ortsbildes und das Schaffen von Begegnungsräumen.
Das Dorf kompensiert mit diesen Wir-Momenten die im Vergleich zu urbanen Räumen fehlende Dichte und schafft es auf diese Weise, neben dem Gemeinschaftsgefühl auch die Chance auf zufällige Begegnungen zu erhöhen. Und gerade diese sind es oft, die Neues entstehen lassen.
Wie ausgeprägt die Wir-Momente in meinem Dorf sind, lässt sich mit einer einfachen Frage erkunden: Hat unsere Dorfgemeinschaft derzeit genügend Gelegenheiten, sich zu treffen – bewusst und unbewusst?
- UNSERE ROLLE IN DER WELT
Leitfrage: Bringen wir etwas hervor, das auch für andere einen Mehrwert bringt? Sind wir relevant für die Welt um uns herum?
Diesen letzten Punkt finde ich besonders wichtig und er ist von der Purpose-Diskussion in der Wirtschaft inspiriert. Wozu ist unser Dorf in der Welt? Genügen wir uns selbst oder leisten wir darüber hinausgehend einen Beitrag?
Zukunftsfähige Dörfer haben Relevanz – auch in der Welt um sie herum. Reinsberg hat es geschafft, als Kulturdorf Kompetenz aufzubauen – zunächst mit der Burgarena, nun auch mit dem MUSIUM. Wenn Menschen Kunst und Kultur erfahren möchten, ist Reinsberg ein guter Platz für sie. Viele haben Reinsberg für diese Qualität kennen und schätzen gelernt.
Diese Differenzierung ist nicht mit der krampfhaften Suche nach einem Thema zu verwechseln, das sonst noch keiner besetzt hat (Stichwort Themendorf). Im Gegenteil: Zukunftsfähige Dörfer verfügen über ihnen eigene Qualitäten, die wertvoll auch für andere Menschen sind – durch eine besondere Geografie, durch eine besondere Fertigkeit oder eine spezielle Infrastruktur. In diesem Sinne teilen zukunftsfähige Dörfer gerne mit anderen, da ihnen ihre Rolle in der Welt bewusst ist und auch die Verantwortung, die damit verbunden ist. Denn es würde auch den anderen etwas fehlen, wenn das Dorf nicht mehr da wäre.
Sie können Sich also fragen: Gibt es in meinem Dorf etwas, was auch anderen Nutzen stiftet und kümmere ich mich ausreichend um diese Qualität?
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Zukunftsfähige Gemeinden sind keine Wunderwuzzis. Sie durchleben genauso Krisenphasen (frag Reinsberg), sie straucheln, sie kämpfen mit sich und anderen. Aber sie zeichnet eines aus: Sie machen bei folgenden Punkten öfters das Richtige als das Falsche:
- Talent
- Agenda
- Haltung
- Anbindung
- Wir-Momente
- Unsere Rolle in der Welt
Das führt uns zu einer sehr positiven Zukunftsperspektive:
Wenn wir an den richtigen Schrauben drehen, wird das Dorf im ländlichen Raum zur idealen „Organisationseinheit“, um den lokalen und globalen Herausforderungen zu begegnen.
Nichts ist positiver und sinnstiftender für die Gestaltung unserer Welt von heute und morgen als ein Dorf, das auf Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist.
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Bild:
Dorffest 2022 – Eröffnung des Musiums, Kindergarten und Dorfplatz Reinsberg, 19. Juni 2022
Foto: Gerald Prüller / Cleanhill Studios