GASTKOMMENTAR von Leander Steinkopf – NZZ, 12.8.2023:
Schluss mit den moralischen Gesten!
Die willkürlichen Regeln der Klimaschützer bringen nichts und spalten die Gesellschaft.
Ist es tatsächlich besser, auf dem Transatlantikflug ein Buch über die Klimakrise zu lesen als den Sommer Fleisch grillierend im Schrebergarten zu verbringen?
Neulich auf einer Abendveranstaltung unter Literaten. Drinnen war die Lesung langweilig, weshalb sich immer mehr Leute draußen drängten. Ich kam mit einer jungen Erfolgsautorin ins Gespräch, weil sie sich über das Etablissement ärgerte, das für den Event ausgewählt worden war. Wie man hier denn eine Veranstaltung machen könne, empörte sie sich, die hätten ja sogar Tatar auf der Karte!
Ich war gerade von einem längeren Aufenthalt in Polen zurück, bei dem es mir durchaus gefallen hatte, dass dort – neben Bigos, Borschtsch und Pierogi – Tatar zu den Standardgerichten einfacher Lokale gehört. Diese Gerichte waren mir gemütlich und liebenswert erschienen, eher besänftigender «Soul Food» als Nahrung, die Empörung auslöst. Ich verstand die Verärgerung nicht. Gab es etwa eine direkte Verbindung vom Faschierten zum Faschismus?
Die junge Erfolgsautorin erklärte, dass man in Zeiten der Klimakrise doch kein Fleisch anbieten könne: erst recht nicht Tatar! Da verstand ich. Tatar war ihr nicht nur Fleisch. Es war ihr Fleisch, das Empathie bewirkt, nicht zurückhaltend verfremdet wie in einem Wiener Würstchen oder versteckt in einer Maultasche, sondern roh und muskelfaserrot, also völlig schamlos. Gerne wollte ich die Gegenposition vertreten, nämlich dass man den Wert des Fleisches doch umso mehr achte, wenn man sich seiner Herkunft bewusst sei. Bei Steak oder Tatar erkenne man, dass man die Muskeln eines Tieres esse, das zu diesem Zweck getötet worden sei, die Wiener Wurst verschleiere das.
Ich fliege nicht
Auch wer klimabedingte Fleischreduktion vertritt, sollte also das Tatar feiern! So wollte ich argumentieren, aber dazu kam es nicht. Die junge Erfolgsautorin mit den Klimabedenken musste nämlich schnell zum Flughafen, um ihre Maschine nach Mexiko zu erwischen.
Ich verabschiedete sie und war enttäuscht. Einerseits weil aus diesem langweiligen Abend doch noch etwas hätte werden können, andererseits weil ich schon lange einmal – natürlich mit dem mir eigenen Understatement – heraushängen lassen wollte, wie klimafreundlich ich eigentlich lebe. Mit Familie wohne ich auf nur etwa sechzig Quadratmetern. Laut der statistischen Einordnung auf der Stromrechnung liegt unser Verbrauch zu viert unter dem eines typischen Einpersonenhaushalts. Ich fliege nicht, und das Auto habe ich abgeschafft. Schon vor dem Gasmangel habe ich nur sparsam geheizt und effizient gelüftet. Obendrein bin ich vor kurzem dazu übergegangen, nur noch kalt zu duschen.
Die Sache hat nur einen Haken. Die kleine Wohnung ist auf die Münchner Mietverhältnisse zurückzuführen; ich hätte nichts gegen mehr Platz. Der niedrige Stromverbrauch kommt daher, dass ich mich nicht für Tiefkühlpizza aus dem Backofen und auch nicht für amerikanische Serien auf großformatigen Fernsehern interessiere. Ich fliege nicht, weil ich lieber Zug fahre und mich Mittelosteuropa mehr begeistert als Mittelamerika. Und mein Spareifer beim Heizen kommt daher, dass ich noch das Gebrüll meines Vaters im Ohr habe, wenn ich als Kind im Winter nicht die Zimmertüren der warmen Räume geschlossen hielt oder einen Regler verschwenderisch weit aufdrehte.
Kurzum: Meine ganze Klimavorbildlichkeit ist nicht Besorgnis und Überzeugung geschuldet, sondern Notwendigkeit, Geschmack und frühkindlicher Prägung. Und ich glaube, das ist ein Problem.
Umweltbewusst oder umweltfreundlich?
Eine Philosophin hat mir mal beim Bier eine konsequenzialistische Ethik attestiert (vereinfacht: eine Ethik, die auf das TUN setzt und nicht auf das „über das Richtige REDEN“ – Anm.), und sie ließ diese Feststellung wie einen Vorwurf klingen. Eigentlich hatte ich ihr nur gesagt, dass ich auf den «cheap talk» (billiges Geschwätz) vieler Menschen nichts gebe, dass ich Handlungen und Ergebnisse sehen wolle, um zu urteilen. Mir war das eine Selbstverständlichkeit gewesen. Sie wollte mir nun erklären, dass eine deontologische Ethik, die nicht auf die Ergebnisse, sondern auf die Absichten schaue, das eigentlich Edle sei. Es ist also besser, auf dem Transatlantikflug ein Buch über die Klimakrise zu lesen als auf dem heimischen Balkon eskapistische Romane.
Beim Bier mit der Philosophin hörte ich diese Begriffe zum ersten Mal, und sie erschlossen mir einen Dissens, den ich Jahre zuvor in Sarajevo erlebt hatte – im Salon der hochherrschaftlichen Wohnung, die ich mir dort hatte leisten können. Ein Slowene und eine Österreicherin stritten darüber, ob die Bosnier oder die Westeuropäer die größeren Umweltsäue seien. Die Argumente dieses Streits passten aber nicht zueinander, und es war keine Philosophin dabei, welche die begriffliche Klärung herbeizuführen in der Lage war. Der Slowene zielte nämlich immer wieder darauf ab, dass die Bosnier schon aufgrund ihrer relativen Armut viel weniger Ressourcen verbrauchten, dass sie keine Flugreisen machten, sondern zu Hause blieben, dass sie ihre Elektrogeräte gebraucht erwürben und reparierten, solange es gehe.
Die Österreicherin hingegen wollte immer wieder darauf hinaus, dass den Bosniern, im Gegensatz zu den Österreichern und Deutschen, die Umwelt ziemlich egal sei, man müsse doch nur auf den Müll am Straßenrand achten.
Sie stritten auf Englisch darüber, wer mehr «ecological» sei, aber dahinter steckten wohl zwei verschiedene Verständnisse. Beim Slowenen war es ganz konsequenzialistisch das Ergebnis des Handelns, das bei den Bosniern klar umweltfreundlicher ausfiel. Die Österreicherin hingegen hatte wohl als Übersetzung von «ecological» den Begriff «umweltbewusst» im Kopf, der, beim Wort genommen, gar nichts über das Handeln und dessen Ergebnisse aussagt, sondern über die vielen Gedanken, Sorgen, Bedenken und guten Absichten, die man so hat.
Beide Perspektiven sind gleichermaßen gerechtfertigt. Aber wenn die allgemein anerkannte Zielvariable die Menge an emittiertem Kohlendioxid ist, haben wir es mit einem rein konsequenzialistischen Konzept zu tun. Nach diesem ist es egal, wie schlecht das Gewissen ist, mit dem man sich ins Flugzeug setzt. Es kommt allein auf das Handeln oder eben Unterlassen und dessen Emissionsergebnisse an.
Zusammenhalt im Klimaklub
Einen Punkt könnte man aber doch für die andere Seite anführen: Menschen sind Gruppenwesen, und eine politische Bewegung muss sozialen Zusammenhalt herstellen, um in der Gesellschaft wirksam zu werden. Was wiederum gemeinsame Normen braucht, und dafür ist es nicht förderlich, wenn der eine beim Essen einspart, der andere Fernreisen vermindert und der Dritte zum Wohle zukünftiger Generationen kinderlos bleibt.
Man sollte sich schon auf konkretes Gut und Böse einigen und dann auch noch einende Emotionen, etwa Scham, schlechtes Gewissen und Empörung, dabei empfinden. Um solch ein System von Werten und Gefühlen kann man sich scharen. Wer es sich leisten kann, kann dabei sein, das schlechte Fluggastgewissen und die veganen Foodies in den sozialen Netzwerken teilen und sich seine Likes von seinen Wertepartnern abholen.
Hingegen werden Klimaschutzmühen ohne starres Glaubenssystem, bei dem jeder seine Emissionen auf ganz individuelle Weise reduziert, niemals diese Gemütlichkeit der gegenseitigen Anerkennung bieten.
Eine politische Bewegung braucht also geteilte Normen und Gefühle, um Zusammenhalt herzustellen und Zugehörigkeit zu bieten. Damit geht natürlich einher, dass andere ausgeschlossen werden. Wer sich keine Transatlantikflüge leisten kann, kann nicht mit schlechtem Gewissen die Bordkarte vorzeigen. Und wenn sich dieselbe Person dann vom Eigenheim im gebrauchten Diesel aufmacht zum Ostseestrand, verstößt sie gegen die Werte der normbildenden Gruppe, obwohl der Roadtrip weit klimafreundlicher ist als das Emissionsmassaker über den Großen Teich.
Kein Wunder, dass sich Widerstand formiert vonseiten derer, die eine rationale und argumentativ fundierte Strategie fordern. Sie wollen sich nicht den willkürlichen Regeln unterwerfen, die eine gesellschaftliche Gruppe für die richtigen hält. Sie fragen, warum sie auf Elektromobilität umstellen sollen, wo in Deutschland der Strom zu großen Teilen noch aus Kohle gewonnen wird. Sie fragen, wie wir denn sicherstellen sollen, dass der Rest der Welt, sprich China, nicht einfach immer mehr emittiert, während wir reduzieren. Sie fragen, warum der Staat mit Verboten und Mikromanagement genau vorgeben will, wo einzusparen ist, statt einem Markt für CO2-Zertifikate die möglichst effiziente Allokation der Einsparungen zu überlassen.
Pragmatismus ist gefragt
Der Klimaschutz kommt jetzt in eine neue Phase. Es geht nicht mehr darum, mit coolem Lifestyle und moralischer Überlegenheit gebildete junge Leute, Medienmacher und progressive Politiker auf die eigene Seite zu holen. Nun geht es darum, die Masse zu erreichen.
Das Anliegen des Klimaschutzes wurde von einer sozialen Bewegung an die Spitze der politischen Prioritätenliste gebracht, nun ist der Grund des eigenen Erfolgs aber zum Hemmschuh geworden. Man hat sich der Reduktion von Fleisch, Einfamilienhäusern und Verbrennungsmotoren verschrieben, wohingegen etwa Fernreisen, Fast Fashion und die Obsoleszenz von Elektronik nahezu unbehelligt bleiben. Nicht ganz grundlos haben viele das Gefühl, dass sich die Politik gegen ihren Lebensstil richtet, aber damit in Sachen CO2-Reduktion kaum Erfolge vorzuweisen hat.
Statt starren Normen wäre nun Pragmatismus gefragt. Dieser Pragmatismus könnte etwa darin liegen, jene genügsamen Menschen, die den Sommer grillierend in ihrem Schrebergarten verbringen und nicht auf Kreuzfahrtschiffen oder in Langstreckenjets um die Welt reisen, zu Vorbildern zu erklären, statt ihnen ihr Grillgut zum Vorwurf zu machen. Man sollte die Boomer feiern, die ihre Lesebrille aufsetzen, um auf dem sieben Jahre alten Android-Phone durch die Emoticons zu scrollen. Oder gibt es ein Recht, auf einem nagelneuen iPhone abfällig über deren mangelnde konsumkritische Haltung zu twittern? Welches Recht hat man, ihnen die Volksmusiksendungen im linearen Fernsehen vorzuwerfen, während man selbst streamt, bis die Server glühen? Im Gegenteil, man sollte jedem dafür danken, der modisch in einem vergangenen Jahrzehnt hängengeblieben ist und dessen Kleiderschrank nichts Neues verlangt.
Die Zeiten von avantgardistischer Coolness und moralischen Überlegenheitsgesten sind in der neuen Phase des Klimaschutzes vorbei. Nun geht es darum, die Bescheidenen und Genügsamen zu feiern, denen die Thüringer Bratwurst näher ist als die kalifornische Sonne, jene, die nicht das neueste iPhone brauchen, bloß den neuesten «Tatort». Ganz nebenbei würde man damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen, den man in letzter Zeit so oft verloren glaubt.
Und wenn ich die Erfolgsautorin wieder treffe, sollte sie mich eigentlich zur Feier meiner CO2-Bilanz auf einen Teller Tatar einladen. Sofern sie es mit dem Klimaschutz ernst meint.
Leander Steinkopf ist ein deutscher Schriftsteller. Zuletzt von ihm erschienen ist die Anthologie «Neue Schule – Prosa für die nächste Generation» im Claassen-Verlag.
Bild: Wer dreht den Spieß beim Klimaschutz um? Es geht nun nicht mehr um coolen Lifestyle, sondern darum, die breite Masse zu erreichen (im Bild: Fake Food aus Plastic). – Bild: Annick Ramp / NZZ