Wie ein Dorfgeld eine Gemeinde vor dem Sterben bewahrt hat

WIENER ZEITUNG:

Wie ein Dorfgeld eine Gemeinde vor dem Sterben bewahrt hat

Ohne Moos nix los: Der Ort Langenegg in Vorarlberg lässt seit knapp 15 Jahren eigenes Geld drucken. Sogar aus Japan kommen Delegationen, um sich das Modell anzusehen.

Tote Hose auf dem Land. Tristesse zwischen den Ortstafeln. Kein Geschäft, kein Café, kein Garnichts. So sieht es halt aus, wenn ein Dorf stirbt. Wenn man Glück hat, gibt’s beim nächsten Kreisverkehr auf der Landstraße ein Konglomerat an Filialen von großen Supermarkt-Ketten. Und vielleicht irgendwo eine Tankstelle als letzten verbliebenen sozialen Treffpunkt.

Ist das der unaufhaltsame Lauf der Dinge? Nein. Das zeigt ein kleines Dorf in Vorarlberg. Das Geheimrezept der Gemeinde Langenegg: eigenes Geld, die Langenegger Talente.

Denn das Dorf ist eine der wenigen Gemeinden in Österreich, die über eine Regionalwährung verfügen. Die sogenannten Langenegger Talente sehen für das Euro-gewohnte Auge wie Monopoly-Geld aus. 1er-, 5er-, 10er-, 20er- und 50er-Scheine gibt es. Sie sind kürzer als Euroscheine, aber sie sind ebenfalls auf Sicherheitspapier gedruckt, und jeder Schein hat eine andere Farbe. So gibt es keine Probleme bei der Kassa, erzählt die örtliche Supermarkt-Leiterin Monika. Sie hatte am Anfang Bedenken wegen der Währung. Aber inzwischen ist sie absolut davon überzeugt. Es mache bei der Abrechnung keinen Unterschied. Geld ist Geld.

Offiziell ist eine Regionalwährung keine Konkurrenz zum Euro, sondern nur eine Komplementärwährung. Das bedeutet auch, dass sie klein bleiben muss. Der Kreis der Benutzer:innen und die lokale Verbreitung müssen überschaubar bleiben. Wien zum Beispiel wäre viel zu groß.

Big in Japan

Langenegg will aber auch nicht Stadt sein, sondern Dorf bleiben. In ruralen Kreisen ist die Gemeinde im entlegenen Bregenzerwald weltberühmt. Aus Süddeutschland, aus der Schweiz und sogar aus Japan kommen Delegationen von Bürgermeister:innen, um sich anzusehen, was die 1.100 Menschen in Langenegg besser machen als andere Dörfer.

Für Langenegg kam der Moment der Wasserscheide 2008. Da war absehbar, dass der Dorfgreissler in Pension geht. Nachfolger:in gab es keine/n. Dorfgreissler, Gasthaus, Café, Sennerei: Sie halten die Dorfgemeinschaft am Leben. Ohne die sozialen Treffpunkte stirbt ein Dorf. Der Tod von Langenegg schien unaufhaltsam. Viele Langenegger:innen pendeln zum Arbeiten ohnehin raus aus dem Ort und kommen an zahlreichen Supermärkten vorbei.

Aber Langenegg stemmte sich dagegen. In einem gemeinsamen Kraftakt entschieden sich die Bürger:innen, die Geschäfte weiterzuführen. Aber um solchen kleinen Betrieben das Überleben zu sichern, brauchte es eine Garantie: eine eigene Dorfwährung. Die Langenegger Talente sind ein „Anreiz”, sagt der Unternehmensberater Gernot Jochum-Müller zur WZ, der die Gemeinde damals bei der Umstellung betreut hat und dessen Genossenschaft Allmenda auch die Technik bereitstellt.

Abos und Förderungen

Über ein Abo-System tauschen seit 2009 rund 15 bis 20 Prozent der 450 Haushalte in Langenegg ihr Geld in die lokale Währung um. Das sind zumeist Beträge zwischen 100 und 500 Euro, monatlich werden so 11.000 Euro in die bunten Scheine gesteckt.

Die Gemeinde vergibt ihre Förderungen nur in der Dorfwährung: Fußballverein, Blasmusik und Feuerwehr können mit dem Geld nur in Langenegg bezahlen – damit unterstützen sie die lokale Wirtschaft.

„Die Gemeinde kurbelt damit Kooperationen und einen Zusammenhalt an, der so sonst nicht stattfinden würde“, sagt Jochum-Müller. Volkswirtschaftlichen Berechnungen zufolge werden auf diese Art 680.000 Euro im Jahr in dieser kleinen Gemeinde gebunden.

Um eine zusätzliche Motivation zum Wechseln in die lokale Währung zu schaffen, vergibt die Gemeinde einen Rabatt von drei Prozent: Für 100 Talente zahlt man 97 Euro.

Kreislauf statt Einbahnstraße

Subventionen sind normal. In Vorarlberg sind 60 Prozent der kleinen Nahversorger in den Gemeinden in irgendeiner Form gestützt. Aber die normale Ausschüttung einer Förderung bleibt eine Einbahnstraße. Das Dorfgeld ist hingegen für die Zirkulation gedacht. Das macht den großen Unterschied zu Gutscheinen oder Stadtkarten aus: Auch hier wird Geld oder Währung zwar im Shop oder in der Stadt gebunden. Aber nach einem einmaligen Umsatz ist der Effekt wieder verschwunden.

Die Hälfte der Arbeit ist die Überzeugungsarbeit

„Es braucht gerade am Anfang eine große Portion Mut und Überzeugungsarbeit. Weil man alle beteiligten Betriebe gewinnen muss“, erzählt Jochum-Müller. „Der Betrieb muss auch einsehen, dass nicht nur das eigene Wohlergehen wichtig ist. Das System funktioniert nur, wenn es allen gut geht.” Jochum-Müller und seine Genossenschaft haben Erfahrung mit Regionalwährungen. Sie haben auch den V-Taler in Vorarlberg und den oberösterreichischen Ennstaler eingeführt. Ehrenamtlich, denn sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt ein Stück gerechter zu machen.

Überproportional viel gemeinschaftliches Tun

In Langenegg funktioniert das Anreizsystem. Das Dorf verfügt inzwischen über 21 Vereine und etwa acht weitere Initiativen, erzählt Langeneggs Bürgermeister Thomas Konrad. 40.000 Euro werden in Form von Langenegger Talenten jährlich in die Vereine gesteckt.

Konrad ist, wie der Rest der Gemeindevertretung, parteifrei. Das hat in Langenegg Tradition, macht den Ort aber zu einem Unikum in der Region. Das Parteifreie macht es leichter, sich in der Sache zu einigen, meint Konrad.

Ähnlich Denkende werden angezogen

Langenegg hat dank der Wiederbelebung eine Strahlkraft entwickelt – der Ort wächst und zieht Menschen an, die ihrerseits wiederum Lust daran haben, die Ärmel hochzukrempeln.

„Vielen Neuzugezogenen muss man den Gemeinschaftsgedanken nicht mehr erklären, weil die ihn von Haus aus suchen“, sagt Konrad, der selbst aus Dornbirn hergezogen ist. „Früher hat man sich aufs Land verzogen, um auch anonym zu sein. Aber heute will man wo sein, wo Gemeinschaft ist, wo Kinder gut aufwachsen können.“

Die Herausforderungen sind nun, mit der Attraktivität zurande zu kommen. Zwischen 50 und 100 Menschen kommen pro Jahr in Langenegg dazu. Mit dem Raum muss sorgsam umgegangen werden. Feriensiedlungen existieren nicht, obwohl der Bregenzerwald eine Tourismus-Region ist. Die, die hier wohnen, engagieren sich, die Zukunft fest im Blick.

Dörfer sterben. Langenegg lebt.

Konstanze Walther, WIENER ZEITUNG, 3.5.2024

https://www.wienerzeitung.at/a/ein-dorfgeld-gegen-das-dorfsterben

Daten und Fakten

  • Viele versuchen, in einer globalisierten Welt Geld und Produktion vor Ort zu halten. Den wenigsten gelingt es längerfristig. Das Modell Regionalgeld kommt oft aus der Anfangsphase nicht heraus, lieber wird über Förderungen oder Gutscheine operiert. Ein Dorfgeld, das seit knapp 15 Jahren funktioniert, ist selten.
  • Dass die kleine Gemeinde Langenegg besonders ehrgeizig ist, hat sie vor 100 Jahren bereits gezeigt. Die Genese Langeneggs klingt wie eine Geschichte aus einem Asterix-Band: Früher gab es nämlich Ober- und Unterlangenegg. Ein wohlhabender Bauer hatte seinen Bauernhof genau an der Grenze der beiden Dörfer und musste Abgaben an beide Dörfer zahlen. In seinem Testament erklärte der kinderlose Landwirt: Er würde Hab und Gut der Gemeinde vererben, wenn sie sich zusammenschlössen und auch soziale Aspekte berücksichtigen würden. Binnen eines Jahres schafften die Dörfer den Zusammenschluss.
  • Die Langenegger Talente werden auf Sicherheitspapier alle drei Jahre neu aufgelegt und repräsentieren auf den Bildern immer ein Thema, das für das Dorf wichtig ist. Derzeit sind es Wahrzeichen des Ortes. Zuvor wurden Vereinssujets abgebildet.
  • Über ein Abo-System können Euros gegen Talente getauscht werden. Das macht die Talente zu einer Euro-gedeckten Regionalwährung.
  • Die zweite große Komplementärwährung in Vorarlberg, der V-Taler, ist eine Leistungs-gedeckte Währung (Arbeitseinheit wird mit V-Taler gegengerechnet).
  • Weitere aktive Euro-gedeckte Regionalwährungen (Umtausch in Euro) in Österreich:
  • Ennstaler
  • Styrrion
  • Neulengbacher 10er

 

Gesprächspartner

 

Unser Fiebertraum vom Wachstum

Gespräch in der Zeitschrift DER PRAGMATICUS mit Univ.-Prof. Mag. Dr. Dr. Martin Grassberger:

Unser Fiebertraum vom Wachstum

Dieses Effizienz- und Wachstumsparadigma ist am Ende, argumentiert der Mediziner Martin Grassberger und schlägt eine Alternative vor.

Der Mediziner Martin Grassberger sagt genau die Dinge, die derzeit kaum jemand hören möchte. Etwa, dass der Kollaps unserer Lebensgrundlagen längst begonnen hat, und dass noch mehr Technik und noch mehr Effizienz die Probleme unserer Zeit nicht lösen. Und das ist nicht einmal schlimm. Er hat nämlich einen anderen Vorschlag: Regeneration.

Was beschäftigt Sie gerade?

Martin Grassberger: Ich habe gerade ein neues Buch fertiggestellt, und mich beschäftigt aktuell die Frage, wie die Inhalte aufgenommen werden.

Um was geht es in dem Buch?

Es heißt Regenerativ und ist ein eher unkonventioneller Versuch, die Ursachen der Metakrise oder Polykrise zu erklären, und auch, wie wir wieder aus diesen verschachtelten Krisen oder, eher, aus der übergeordneten Metakrise herauskommen.

Worin besteht aus Ihrer Sicht die Metakrise?

Es existiert die These, dass all die vielen unterschiedlichen Krisen – die Klimakrise, der Arten- und Biodiversitätsverlust, Migration, Demokratiemüdigkeit, die geopolitischen Krisen – letztlich eine Krise der menschlichen Kognition sind, eine Krise unserer Wahrnehmung und unseres Selbstverständnisses.

Das klingt so, als müssten wir die Dinge nur anders betrachten, dann lösten sich die Probleme, die wir haben, von selbst.

In gewisser Weise stimmt das. Nur müssen wir komplett umdenken und verstehen, dass wir Teil komplexer Systeme sind – unser Körper ist ein komplexes System, die Gesellschaften, das Klima, die Umwelt, das globale Wirtschaftssystem. In diesen Systemen kommt es nicht so sehr auf die einzelnen Elemente an, sondern auf die Vielzahl der Verbindungen zwischen ihnen. Der Mensch versucht nun permanent, Probleme mit einfachem linearem Denken zu lösen. Das kann jetzt nicht mehr gelingen. Der Denkfehler, den der Mensch macht, ist zu glauben, man könne komplexe Systeme kontrollieren oder gar dominieren. Das kann bzw. sollte man nicht.

Nein?

Nein. Diese vermeintliche Kontrolle, das versuche ich im Buch zu erklären, ist eine Illusion, die daher rührt, dass wir unsere gesamte Wahrnehmung und die Deutung der Welt der linken Gehirnhälfte überlassen haben.

Das müssen Sie genauer erklären, bitte.

Wir haben zwei Hirnhemisphären und früher nahm man an, die linke Gehirnhälfte steuere alles Analytische und Pragmatische, rechts sei die Kreativität zuhause. Das stimmt erwiesenermaßen nicht. Was aber stimmt, ist, dass unsere Gehirnhälften die Welt unterschiedlich wahrnehmen. Die linke Gehirnhälfte neigt zum Kategorisieren und Abstrahieren, die rechte bettet diese Wahrnehmungen in ein größeres Ganzes ein und verbindet die Information mit Gefühl, mit Erfahrung und „sieht“ auch die Qualitäten und Möglichkeiten. Sie ist gewissermaßen die weisere von den beiden Hirnhälften. Wir brauchen beide Gehirnhälften, um zu überleben, aber in der Welt, die wir geschaffen haben, dominiert die linke Gehirnhälfte. Das heißt, wir nehmen unsere gesamte Welt nur noch reduktionistisch war, weil wir die Komplexität der Biosphäre, deren Teil wir sind, auf Zahlen reduzieren: das Bruttoinlandsprodukt, die CO2-Konzentration, Temperatur, Körpergewicht etc. etc. 

 

Warum ist das ein Problem? Die Zahlen leisten doch gute Dienste.

Das Problem ist, dass die Zahlen nicht die ganze Realität abbilden. Es sind sehr nützliche Abstraktionen, aber nicht mehr. Die Erkenntnisse, die wir daraus gewinnen können, sind begrenzt. Trotzdem ist die Abstraktion von der lebendigen Welt so dominant, dass sie verhindert, dass wir die Probleme, die wir haben, in ihrer Ganzheitlichkeit sehen und lösen können. In meinem Fachgebiet, der Humanökologie, wo es darum geht, wie der Mensch seine sogenannte Umwelt verändert und wie diese wieder auf ihn zurückwirkt, arbeite ich auch mit diesen Abstraktionen. In meinen zwei bisherigen Büchern lege ich wissenschaftlich korrekt, mit vielen Informationen und Statistiken untermauert dar, wie sich ökologische Umweltveränderungen auswirken, auf die Landwirtschaft, die Ernährung, die Ressourcen usw. und zeige, dass unsere Lebensgrundlagen auf dem Spiel stehen. Es ist alles völlig korrekt – nur scheint es niemanden zu tangieren. Das liegt daran, dass wir die meisten Entscheidungen emotional treffen.

Aber diese Emotionen haben keine Resonanz, meinen Sie?

Ja. Wir glauben ja fest daran, dass wir die ökologischen Verwerfungen durch gute Wissenschaft lösen können, oder? Wir denken, dass im technischen Fortschritt immer die Lösung enthalten ist. Wenn man sich nur ein bisschen mit Systemwissenschaft beschäftigt, weiß man, dass eigentlich genau das Gegenteil der Fall ist, denn unsere Wirtschaftssysteme und unser Fortschritt haben uns erst in diese Situation gebracht, in der wir jetzt sind. Es ist eine auf falschen Grundannahmen basierende Idee, dass ewiges Wachstum wirtschaftlich möglich wäre. Dieser Trugschluss ist auch ein Ergebnis unserer kulturellen Entwicklung und unserer Kognition. Wir hoffen immer, dass technische Lösungen uns einer guten Zukunft näher bringen, dabei entfernen wir uns immer weiter von dem, was wir sind, nämlich Tiere in einer komplexen Biosphäre.

Die meisten Menschen wollen das ja genau nicht sein, ein Tier in der Biosphäre. Das macht die Idee von Fortschritt und Wachstum wahrscheinlich attraktiv.

Es geht nicht um eine Rückabwicklung von zivilisatorischen Errungenschaften. Der Mensch hat durch Zufall ein recht komplexes Gehirn entwickelt, das wunderbare Dinge vollbringen kann, besonders dann, wenn auch die rechte Hemisphäre mitspielen darf. Das sehen wir immer zu Beginn von Zivilisationen: Kunst, Kultur und Wissenschaft explodieren förmlich, denken Sie etwa an das frühe Griechenland oder das frühe Römische Reich. Der Mensch hinterfragt sich selbst, ist selbstreflexiv. Mit der Fortdauer einer Zivilisation beginnt aber die Bürokratie, die linkshemisphärische Wahrnehmung, allmählich zu dominieren. Man versucht, alles zu kontrollieren, zu kategorisieren, zu verwalten, und immer dann, wenn diese Verwaltung auf einem Höhepunkt ist, ist eine Zivilisation an ihrem Ende angelangt. Es könnte durchaus sein, dass wir jetzt in so einer sehr späten zivilisatorischen Phase leben, in der alles kontrolliert und überbürokratisiert ist. 

Dies klingt nach einem bevorstehenden zivilisatorischen Zusammenbruch, der für viele wohl eine denkunmögliche Vorstellung ist. 

Ich glaube nicht, dass die Menschheit aufhören wird zu existieren, sondern es werden die Dinge, die wir jetzt in unserer Zivilisation und Kultur als selbstverständlich sehen, für längere Zeit oder vielleicht sogar für immer einfach nicht mehr zur Verfügung stehen. Wir sind dabei, die komplexe Lebenswelt, deren Teil wir sind, zu zerstören. Wir haben zwei Drittel der wildlebenden Tiere verloren, dramatische Rückgänge bei den Insekten, einen unglaublichen Verlust an Arten und an fruchtbarem Boden. Wir verbrauchen immer mehr Energie, obwohl wir immer effizienter werden, weil in allen Produkten, von denen wir immer mehr und mehr konsumieren, fossile Energie steckt. Die können wir aus ökologischen und aus Ressourcengründen auch nicht durch erneuerbare Energien ersetzen. Das stellt unsere Wirtschaft in Frage, denn die beruht auf billiger, stets verfügbarer Energie. Egal wo man politisch steht, muss man begreifen, dass dieses Modell von Wachstum und Konsum an einer ultimativen Grenze angekommen ist.

 

War diese negative Entwicklung, die Sie beschreiben, eine zwangsläufige Folge? Wäre es auch denkbar gewesen, den Fortschritt ohne die Zerstörung zu haben?   

Aus der Ökologie kennt man die sogenannten adaptiven Zyklen. Alle Ökosysteme haben am Anfang Phasen raschen Wachstums, das dann abflacht und in eine Erhaltungsphase übergeht, danach folgt eine Freisetzungsphase, in der die gespeicherte Energie wieder freigesetzt wird. Pflanzen sterben ab, werden zersetzt, es entstehen wieder neue Pflanzen, der Kreislauf beginnt von Neuem. Das ist die Kurve allen Lebens und auch allen menschlichen Lebens und der menschlichen Kulturen und Zivilisationen. Wenn wir in dem Bild bleiben, dann geht es jetzt darum, dass wir unserer Freisetzungsphase entgegenblicken. Der Ökonom Joseph Schumpeter hat diesen Prozess kreative Zerstörung genannt: Die Zerstörung ist dazu da, ein System nicht erstarren zu lassen. Im Moment arbeiten wir aber genau der Erstarrung zu, indem wir alles daransetzen, die Erhaltungsphase durch Subventionen und weitere Effizienzsteigerung zu verlängern. Man nennt das auch Rigiditätsfalle. Das ist aus vielen Gesichtspunkten ein Problem, weil Effizienzsteigerung heißt, dass man aus einem System die Redundanz entfernt. Zum Beispiel die Landwirtschaft: Wenn viele kleine Betriebe unterschiedliche Lebensmittel produzieren, dann ist das nicht sehr effizient, aber effektiv, weil die Redundanzen – die vielen Betriebe –dafür sorgen, dass das System stabil und resilient ist. Es bleibt erhalten, auch wenn ein Element ausfällt. Überlässt man die Lebensmittelproduktion dem globalen Warenhandel mit einförmigen Produkten und wenigen Playern ist das zwar effizient, aber anfällig für Störungen bis hin zum kompletten Zusammenbruch.

Was hindert Gesellschaften heute daran, es anders zu machen?

Das Erzeugen von Redundanzen im System, damit es resilient und stabil ist, kostet Geld. Alles, was auf Kosten der Effizienz geht, kostet Geld, und die Kosten sind ein Hindernis in einer Welt, die immer weiteres Wachstum anstrebt. Sobald Kosten entstehen, bremsen diese das Wachstum. Wenn das Wachstum aber der Fetisch ist, ist man permanent gezwungen, die Kosten zu senken oder am besten zu eliminieren. Endloses Wachstum gibt es in der Natur und in der Wirtschaft aber nicht. Endloses Wachstum ist ein Fiebertraum: Wenn ich von einem Konto nur abhebe, ohne einzuzahlen, wird bald nichts mehr da sein; ein Boden, der auf Ertragssteigerung bewirtschaftet wird, wird irgendwann unfruchtbar sein. 

Was ist die Alternative zum Wachstum?

Es ist das, was ich regenerativ nenne. Regeneration ist mehr als Nachhaltigkeit. Es meint, einen Zustand nicht nur zu erhalten, sondern zu verbessern, also Bedingungen zu schaffen, damit sich Systeme eigenständig optimal weiterentwickeln bzw. regenerieren können. Für die Landwirtschaft heißt das zum Beispiel, dieses Wunder Bodenleben zu fördern, damit es Tiere und Menschen gesund ernähren kann. Regenerative Wirtschaft und regenerativer Kapitalismus heißt, dass wir immer wieder auch einzahlen müssen, damit das System langfristig funktionieren kann. Das setzt eine große psychologische Transformation voraus, nämlich, sich wieder als Teil der Natur zu sehen. Eben nicht effizient sein zu wollen, sondern effektiv. Nicht nur weniger Schaden anrichten zu wollen, sondern aktiv etwas Gutes bewirken zu wollen. Der Mensch hat das Potenzial dazu. Wenn diese Transformation gelingt, können wir auch die Krisen meistern.

Wenn man einen Blick in die Politik wirft, dann bekommt man den Eindruck, dass selbst diejenigen, die ganz unmittelbar davon profitieren würden, dieses Potenzial nicht realisieren wollen. Landwirte sind für Agrardiesel-Subventionen auf die Straße gegangen. Warum ist das so?  

Wenn wir die enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft betrachten, sehen wir, dass es eigentlich nur ganz wenige sind, die von dem derzeitigen System profitieren. Diese wenigen haben eine unheimliche Macht, auch medial. In einer Welt, die kommunikativ so eng vernetzt ist, die ständig eine neue Erregung braucht, und die noch dazu von Desinformation geradezu geflutet wird, müssen wir uns fragen, welche Realität die Bilder, die wir zum Beispiel von den Bauernprotesten sehen, eigentlich abbilden. Die globale Landwirtschaft ist so heterogen und besteht aus so vielen unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten. Es gibt darunter sehr viele, die verstanden haben, dass sie das Leben fördern müssen, wenn sie ihren Betrieb an die kommenden Generationen weitergeben wollen. Das ist aber medial weit weniger interessant, weil es kein Erregungspotenzial birgt. Hinzu kommt, dass unser politisches System eine Abkehr von dem Effizienz- und Wachstumsparadigma nicht zulässt. Welcher Politiker würde sagen, dass wir eine Rückwärtsschleife einbauen müssen?

Sie sagten zu Beginn, dass Sie sich fragen, wie Ihr Buch inhaltlich aufgenommen wird. Welche Erwartungen haben Sie?

Mir ist schon im Vorfeld vorgeworfen worden, dass mein Buch fortschrittsfeindlich oder wirtschaftsfeindlich sei. Dahinter steckt die Idee, dass es Wirtschaft nur mit Wachstum geben kann und dass Fortschritt immer ein technischer Fortschritt ist. Ich will Alternativen zeigen:  Es kann auch ein unheimlicher Fortschritt sein, von manchen Dingen und Vorstellungen loszulassen. Denn: Was braucht der Mensch? Soziale Beziehungen, genug Nahrung, Sicherheit, Wärme und auch schöne Momente, Kunst und Kultur, Spiritualität. Mein Buch ist ein Denkangebot. 

Ein Denkangebot, das vielen vermutlich Angst macht: Kunst, Kultur und Spiritualität werden ja gemeinhin als Luxus gesehen, zuerst muss die Wirtschaft funktionieren. Für viele ist das Denkangebot vermutlich eine Drohung mit Verlust.

Ja, das ist das, was wir täglich ausgerichtet bekommen. Es löst eine wahrgenommene oder auch subtile Angstreaktion aus, die keine guten Zukunftsentscheidungen zulässt: Im Wachstumsnarrativ ist Wohlergehen untrennbar mit Wirtschaftswachstum und Konsum verknüpft. Rohstoffe extrahieren, verarbeiten und entsorgen – das kann langfristig nicht funktionieren.

Also Verzicht?

Verzicht ist auch ein so aufgeladenes Wort ebenso wie Verbot. Ich denke, das sind falsche Entgegensetzungen und zum Teil auch einfach Propaganda, wie wir sie auch bei den Politikprozessen wie dem Nature Restoration Law erlebt haben: Es wird mit Angst und Drohung gearbeitet. Weil man keine Renaturierung will, die ja im Übrigen in der ausverhandelten Form auch vollkommen unzureichend ist, droht man, die Ernährungssicherheit stünde auf dem Spiel, man könne sich Naturschutz nicht „leisten“. Das ist aber ein wahnhaftes Festhalten an Vorstellungen, die in der Realität überhaupt keinen Anker haben, da wir Teil der Natur sind und ohne sie nicht überleben können. 

Damit sind wir wieder bei der Frage, wie man da rauskommt.

Ich habe mich lange mit dem Werk von Joseph Campbell beschäftigt, einem Anthropologen. Er hat als einer der ersten das Muster der Heldenreise beschrieben, das Teil eines jeden Mythos, einer jeden Erzählung des Menschen bis hin zum Hollywood-Film ist: Ein Held gerät in eine Krise, muss Prüfungen bestehen, droht zu scheitern, was ihn schließlich zu einem Paradigmenwechsel bringt, der schließlich eine gedeihliche Zukunft für ihn und seine Umwelt ermöglicht. Mir scheint, dass wir als Menschen nun diese schmerzhafte Heldenreise antreten werden müssen. Wir befinden uns in einem Übergangszustand, wo das alte ist noch nicht ganz weg und das neue ist noch nicht ganz da ist. Antonio Gramsci hat dies die „Zeit der Monster“ genannt. Es treten Zeremonienmeister auf den Plan, die einfache Antworten verkünden. Deswegen ist es so wichtig, in dieser Übergangszeit eine Orientierung zu haben, und ich denke, diese Orientierung könnte jene am Regenerativ sein, an der Förderung von allen Formen des lebendigen Daseins.

Der Pragmaticus | Über mich: https://www.derpragmaticus.com/ueber-mich

Zum Gespräch: https://www.derpragmaticus.com/r/wachstum?fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTEAAR0R6HUT1w7ZX4dRcYqOusrvP_vdvZjtPEVgef0xwG_RNotFNXPHLkX8aFw_aem_AThLzKy4QJFqA5m_w4rJiG-ZOXY45oKq7ULSJ9bNoTvaW2kcB3Aakbf_om1PfkVKtOTE24LEyaa6OTcanFEYhhSe

Über diese Serie:

„Was beschäftigt Sie gerade?“ ist eine Interviewreihe des Pragmaticus, in der unsere Expertinnen und Experten von ihrer Forschung und allem, was sie beschäftigt, erzählen. Die Themen und der Umfang des Gesprächs sind offen.

Über Martin Grassberger:

Martin Grassberger ist Mediziner und Biologe mit Diplomen in Umweltmedizin und Ernährungsmedizin. Er forscht und lehrt als Professor für Gerichtsmedizin an der Sigmund Freud Universität Wien. Er ist der Wissenschaftliche Leiter der Österreichischen Akademie für Misshandlungsmedizin und ausgebildeter landwirtschaftlicher Facharbeiter. Grassberger hat mehrere Bücher über den Zusammenhang von Ökologie und Gesundheit geschrieben. Sein Buch Das leise Sterben über das Mikrobiom des Bodens und die Landwirtschaft ist ein Bestseller. Zuletzt erschien Das unsichtbare Netz des Lebens und im April 2024 Regenerativ. Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter. Für den Pragmaticus schrieb Grassberger einen Beitrag über Antibiotika und Pestizide.
 Foto: Martin Grassberger. © privat

ANHANG:

Online-Umfrage am 7.4.2024

7 BesucherInnen haben sich an der Online-Umfrage beteiligt. Mag die Beteiligung bescheiden erscheinen, sind die Rückmeldungen für uns trotzdem sehr aufschlussreich. Das obige Interview in DER PRAGMATICUS ist der Ersatz für einzelne Antworten von Dr. Martin Grassberger auf die 3. Frage.  

Video-Aufzeichnung vom 7.4.2024 Ungeschnittene Rohfassung des Gesprächs von Dorli Muhr mit Martin Grassberger – Gesamtdauer 1 Stunde 36 Minuten.