Forscherin fordert Systemwandel in der Landwirtschaft

Die Politökonomin Maja Göpel befürchtet eine drastische Zuspitzung der Probleme in der Landwirtschaft und empfiehlt fundamentale Änderungen. Foto: studieoline 
Maja Göpel ist Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen. In ihrem aktuellen Bestseller „Die Welt neu denken – eine Einladung“ wirbt sie für eine fundamentale Änderung des Umgangs mit Natur, Wirtschaft und Gesellschaft.

Frau Göpel, Sie laden in Ihrem neuen Buch dazu ein, sich von undifferenzierten Wachstumsidealen zu verabschieden. Welche Rolle haben Landwirte in dieser neu gedachten Welt?

Es gibt in natürlichen Kreisläufen immer den Punkt, wo es mit dem Wachstum reicht, und es Zeit für Regeneration und Stabilisierung braucht. Diese Balance finden entweder die Ökosysteme selbst oder jemand, der die Kreisläufe versteht. In meiner Wunschwelt wird Landwirten oder Landwirtinnen ermöglicht, Hüter dieser zyklischen Kreisläufe zu sein: Jedes Jahr wächst eine tolle Vielfalt, ohne dass die Substanz für diese Wertschöpfung verloren geht.

Verstehen Sie, warum die Bauern so aufgebracht sind und riesige Demonstrationen organisieren?

Ich kann hier nur aus Gesprächen berichten. Lange Zeit wurde eine bestimmte Art von Landwirtschaft verlangt, so waren ja auch die politischen Anreizsysteme. Und jetzt, wo sich das ändert, geht gleich die Suche nach den Schuldigen los.

Richtiger wäre es, die Fehlstellungen in dem gesamten Ernährungssystem zu suchen, das wir gestrickt haben. Dann ist es eine geteilte Aufgabe aller, die an der Wertschöpfungskette beteiligt sind. Von der Politik über die Produzenten bis hin zu Handel und Konsumenten. Es gibt für alle etwas zu tun, wenn wir dieses System auf Nachhaltigkeit ausrichten wollen, die Landwirte allein können das nicht richten.

Glauben Sie, dass Bauern überhaupt mit einer Stimme sprechen können, wo sie doch höchst unterschiedliche Formen von Landwirtschaft praktizieren?

Das beobachten wir auch in anderen Verbandsstrukturen: Die Differenzierung geht verloren, wenn ein ganzer Sektor mit einer Stimme spricht. Und meistens, das ist auch in Brüssel zu beobachten, einigt man sich dann nur auf einen Minimalkonsens. Das schwächt diejenigen, die Veränderungen vorantreiben wollen und hilft denen, die Besitzstände wahren. Auf einen Sektor wie die Landwirtschaft müssten wir differenzierter schauen, sei es wegen der Spezialisierung von Betrieben oder wegen regionaler Unterschiede, die ja bestimmte Formen von Landwirtschaft einfacher oder schwerer machen.

Würde man – wie Sie es fordern – ideologiebefreit über die Regeln des Produzierens und Konsumierens reden, müsste dann nicht ein Teil der Nahrungsmittel hoch effizient produziert werden?

Was ist denn effizient? Wenn ich es nur ökonomisch betrachte, habe ich schon eine ganze Reihe von Wertentscheidungen getroffen. Weil ich eben nur das, was in einen Preis läuft, in meine Effizienzrechnung einbeziehe. Und dieser Preis sagt aktuell eben nicht die ökologische Wahrheit. Erst wenn ich anfange zu messen, ob z.B. Ökosystemdienstleistungen erhalten werden, dann kann ich wirklich über Effizienz mit langfristiger Perspektive sprechen. Oder wir können über Energieeffizienz sprechen. In manchen Bereichen werden historisch viele Kilojoule verbraucht, um ein Kilojoule in Form von Nahrung zu erzeugen. Geld und Preise lassen sich politisch verändern, die physikalischen und biologischen Gesetze langfristig fruchtbarer Böden und intakter Ökosysteme nicht. Das wissen die Landwirtinnen selbst am besten und sollten in eine Umgestaltung der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen einbezogen werden, so dass ökonomische Effizienz und ökologische Effizienz zusammenfinden.

Wenn nicht mehr nach ökonomischen Effizienz-Maßstäben produziert wird, wie wollen Sie dann eine wachsende Weltbevölkerung ernähren?

Da gibt es natürlich für jede Meinung eine Studie. Ich denke, man sollte die Studien anschauen, die perspektivisch arbeiten: Mit dem jetzigen Zustand der Böden ist das schwierig, aber wenn wir ihnen sechs, siebe Jahre geben, in denen wir sie aufbauen und integrierte Landwirtschaft betreiben, dann wird auch eine andere Produktivität auf dem Quadratmeter möglich werden. Außerdem: Was ist denn der Umkehrschluss? Wenn wir die Menschen nicht nachhaltig versorgen können, haben wir irgendwann ein megamäßiges Problem. Wir können dann Nahrung im Labor züchten. Aber wir können auch schlicht die Ernährungsgewohnheiten so verändern, dass mit der gleichen Fläche mehr Menschen gesund satt werden. Den Fleischkonsum an die Empfehlungen zu gesunder Ernährung anzupassen wäre hier schon ein riesiger Schritt nach vorne. Auch das Ausmaß, in dem produziertes Essen weggeschmissen wird, gilt es zu reduzieren. Ernährungssicherheit ist bereits heute mehr eine Verteilungsfrage als eine Massenfrage.    

Wie stehen Sie zu dem Argument, dass eine ökologische Landwirtschaft mehr Boden für den gleichen Ertrag braucht und damit tendenziell klimaschädlicher ist als konventionelle Landwirtschaft?

Auch hier ist es doch wieder die Frage, was wir als Ertrag bezeichnen. Sobald ich zum Beispiel einrechne, dass Biodiversität geschützt wird, dass Wasser im Boden gespeichert wird und dass Humus aufgebaut wird, werde ich wahrscheinlich zu einer anderen Definition von Ertrag kommen. Und dann werde ich wahrscheinlich in jeder Region zu einem anderen Ergebnis kommen, weil ich ganz andere Voraussetzungen habe. Die Vision, mit der wir arbeiten sollten, ist die Nutzung der Böden so zu gestalten, dass sie langfristig möglichst viele Dienstleistungen gleichzeitig bereitstellen können: Nahrung, Biodiversität, Fruchtbarkeit, Klimasenke, Wasserspeicher, Ästhetik, rurale Lebensräume. Alle diese Potenziale sollten in die Diskussion einbezogen werden, die Forschungs- und Innovationsprogramme auch so multifunktional aufgesetzt werden.

Wie hoch schätzen Sie die Bereitschaft der Verbraucher ein, mehr für nachhaltig erzeugte Lebensmittel zu zahlen?

Früher haben wir ja schon mehr von unserem Budget für Lebensmittel ausgegeben. Warum sind die überhaupt so billig geworden und wo fließt das eingesparte Geld heute hin? Bei unteren Einkommen finden sich dort die Ausgaben für Wohnraum, also für Totmittel. Hier kann gegengesteuert werden. Eine weitere Frage ist: Warum ist das Haushaltsbudget überhaupt so knapp geworden, dass ich meine Bedürfnisse nach guter Ernährung nicht mehr befriedigen kann? Bei der Debatte um den Mindestlohn geht es ja nicht nur um die Ungerechtigkeit zwischen den Lohngruppen, sondern auch um die Frage, ob sich jemand vernünftige Lebensmittel leisten und eine Rente aufbauen kann oder nicht. Und die dritte Frage ist: Wie würde es die Preisgestaltung verändern, wenn die Fördersysteme in der Landwirtschaft tatsächlich umfassend auf Nachhaltigkeit umgestellt würden. Jetzt aus dem Ist-Zustand abzuleiten, wie hoch ein Aufschlag für Biodiversität oder CO2-Verbrauch sein müsste, wäre schwierig. Es gibt also mehrere Ansatzpunkte und in der Corona Krise merken die Menschen, was ihnen im Zweifel wichtig ist: Das ist meine Gesundheit und das ist meine gesicherte Ernährung. Hier liegt eine Chance.

Womit könnte man Verbraucher animieren, freiwillig mehr regional, saisonal und bio einzukaufen?

Mit Lebensmitteln verbindet man den eigenen Lebensraum, die Rückbindung an Grund und Boden, die Existenzgrundlage. Hier Wertschöpfungsketten wieder direkter mit der Bevölkerung vor Ort zu verbinden erscheint mir sehr sinnvoll.

Dafür eignen sich rechtliche Vorgaben, Anreize für die Produzenten, klare Herkunfts-Informationen auf den Produkten und die öffentliche Vergabe. Bremen hat beispielsweise gerade angeordnet, alle Kitas, Kliniken und Schulen nur noch mit Bio-Essen zu versorgen. So etwas ist ein guter Hebel, um den Markt für solche Produkte größer zu machen –Steuergelder sollten auch sinnvoll steuern. Es gäbe also viele Möglichkeiten, etwas zu verändern.

Und in der Umsetzung gilt das Solidaritätsgebot global: es sind westliche Politik und Konsumstandards, die eine exportorientierte Entwicklung im Lebensmittelbereich gefördert haben. Also muss auch eine teilweise Entflechtung weltweit gemeinsam gestaltet werden, so dass auch in ärmeren Ländern resiliente regionalere Kreisläufe entstehen können.

Sie haben gerade von der Rückbindung gesprochen, empfehlen aber, Land als globales Gemeingut zu betrachten. Wie passt das mit dem Selbstverständnis von Bauern und Förstern zusammen, das Land zum Wohle aller zu bewirtschaften?

Ich finde, das passt sehr gut zusammen. Erst einmal geht es um eine globale Perspektive, die nicht von Länder- oder Besitzgrenzen bestimmt wird. Wenn wir zum Beispiel über Biodiversität oder Klimaschutz reden, geht es ja darum, Artenvielfalt und CO2-Kreisläufe stabil zu halten. Die halten sich aber nicht an menschgemachte Zäune. Deshalb liegt gerade in der Bewirtschaftung des Bodens die Herausforderung, lokal zu denken und globale Ziele zum Erhalt der ökologischen Gemeingüter zu unterstützen. Im neuen Gutachten des WBGU wird es um drei Dinge gehen: Erstens um den Schutz: Wie können Mensch und Natur in Schutzgebieten zusammenleben? Zweitens um den Wiederaufbau: Wie kann die Kraft der Ökosysteme, also die Regenerationsfähigkeit der Natur, wieder verbessert werden? Und drittens geht es um die die nachhaltige Bewirtschaftung, damit wir langfristig verlässlich profitieren können. In der Umsetzung geht es dann auch um Fragen wie die, welche Form der Zusammenarbeit und Absprachen über einzelne Betriebe, Regionen und Länder hinaus das beste Resultat ermöglicht.

Stellen Sie nun das Privateigentum an Land in Frage oder nicht?

Gegenfrage: Woher kommt der Gedanke, dass man Land besitzen können sollte? Mark Twain hat schon gesagt: es lohnt sich, Land zu erwerben, denn es wird nicht mehr produziert. Eigentumsverhältnisse haben sich also immer verändert und es kommt auf die Zielsetzung hinter dem Besitz an und auf die Verteilung an. Die Idee, man könne mit seinem Eigentum einfach tun, was man will, ist daher auch nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar.

Dort steht, dass Eigentum verpflichtet und ich mich im Umgang damit an gesellschaftlichen Zielen orientieren sollte. Umgekehrt geht es in vielen Ländern erst einmal darum, überhaupt Landrechte und damit einen verlässlichen Anspruch für die lokalen Bauern zu sichern. Denn mit dem Stichwort Landgrabbing stellt sich die Frage, ob eine hohe Konzentration von Landeigentum noch mit einer Marktwirtschaft vereinbar ist oder ob man sich wieder Mustern des Feudalismus nähert. Und wir können auf dem Mietmarkt beobachten, was rein investitionsgetriebener Besitz bewirkt: Die abwesenden Eigentümer haben wenig Interesse an langfristigen Investitionen, an guten Beziehungen in der Region, an Mitspracherechten derer, die dort leben. Und es gibt ja auch alternative Modelle wie Land Trusts. Da bleiben Flächen Gemeingut und werden mit Auflagen verpachtet – oder es wird für die Kultivierung von Ökosystemdienstleistungen bezahlt. Hier sollten wir erst die politischen Ziele klären und die Suche nach den besten Kooperationsstrukturen nachschalten, inklusive der Verteilung von Rechten und Pflichten.

Die von der Bundesregierung geplante Zukunftskommission soll paritätisch besetzt werden mit Vertretern der Landwirtschaft, aus Wissenschaft und Beratung sowie Verbraucher- Natur- und Umweltschützern. Halten Sie das für das richtige Setting?

Aus unserer Sicht wäre es schon wichtig, das gesamte System mit in die Diskussion zu bringen, also auch die Vertreter von Kommunen – insbesondere von dörflichen Regionen. Das sind auch Betroffene, die von diesen Entscheidungen in ihrer Lebensweise beeinflusst werden. Interessant sind sicherlich auch Start-Ups, Investoren und Innovatoren, um den gesamten Mix in der Landwirtschaft abzubilden.

Unbedingt notwendig wären auch Prozessexpertinnen. Denn wenn – wie es bei der Kohlekommission passiert ist – jeder Interessenvertreter am Beginn der Diskussionen erst einmal seine rote Linie markiert, ist die Zukunftsoffenheit schon im Eimer. Denn dann wird jeder dieser Vertreterinnen nur noch daran gemessen, ob er seine rote Linie erfolgreich verteidigt.

Ein Thema der Zukunftskommission soll sein: Wirtschaftliche Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft. Geht das aus Ihrer Sicht überhaupt zusammen?

Nur dann, wenn man Wettbewerbsfähigkeit neu definiert. Wer hier nur ökonomische Messgrößen anlegt und auf dem ökologischen Auge blind bleibt, bleibt mittelfristig auch auf dem sozialen Auge blind.

Wettbewerbsfähigkeit muss also im Sinne von True Cost Accounting oder Umweltbilanzen eine reale Betrachtung der Wirtschaft erlauben, also sich auch für die Grundlage zukünftigen Wirtschaftens interessieren. Wettbewerbsfähigkeit ist das Mittel, Nachhaltigkeit ist der Zweck, nicht umgekehrt. Und eine gesunde Definition von Wettbewerbsfähigkeit kann nur eine sein, in der Landwirte von ihrer Arbeit gut leben können, idealerweise irgendwann ganz ohne Subventionen.

Was könnte man tun, um die Landwirte aus dem Würgegriff eines brutalen Preiswettbewerbs, steigenden Pachtpreisen und immer schärferen Verordnungen zu befreien?

Das geht nur mit einem systemischen Ansatz, also mit vielen parallelen Maßnahmen. Natürlich muss ein höherer Anspruch an die Produzenten begleitet sein von Anti-Dumping-Regeln für den Handel und Preisanpassungen für importierte Lebensmittel. Und auf der anderen Seite muss die Subventionsvergabe der EU dringend geändert werden, weil hier ja zum weit überwiegenden Teil einfach nach Fläche bemessen wird und nicht nach gesellschaftlich wünschenswerten Leistungen. Und, auch das ist klar, die Bodenspekulation und hohe Verschuldungen, die Bauern das Leben schwermachen, können so nicht weitergehen. Auch sind die Kräfte zwischen großen Zulieferern und Abnehmern im Verhältnis zu einzelnen Produzenten zu ungleich verteilt für eine faire Verhandlung von Verträgen.

Weckt die derzeitige Corona-Krise bei Ihnen eher die Hoffnung auf eine etwas weniger überdrehte Wirtschaft mit mehr Bewusstsein für Lebensmittel oder befürchten Sie eine erneute Aufholjagd, wenn das alles überstanden ist?

Traurig wäre es, wenn wir nach dieser gewaltigen gemeinsamen Anstrengung wieder einfach in die alten Muster zurückfielen – und es schon wieder darum geht, dass wir uns Klimaschutz und Nachhaltigkeit nicht mehr leisten können. Da waren so viele tolle Programme, Pioniere und Initiativen in der Planung und Umsetzung, diese Aufbruchsstimmung und Richtungssicherheit müssen wir erhalten und verstärken.

Wir haben doch die letzten Wochen durch eine gute Kollaboration zwischen Wissenschaft und Staat, zwischen Wirtschaft und Bürgern sehr schnell sehr viele Dinge umsetzen können. Das sollte uns Mut geben für eine neue politische Kultur der Solidarität und Schicksalsgemeinschaft. Wir könnten aus der Krisenbekämpfung einen neuen Gesellschaftsvertrag für ein nachhaltiges Wirtschaftswunder entwickeln! Denn wenn man sich die globalen Umweltrisiken anschaut, ist Corona tatsächlich nur ein Vorgeschmack. Diese Demut würde ich mir wünschen.

Carsten Matthäus, agrarheute, Freitag, 29.05.2020

https://www.agrarheute.com/politik/forscherin-fordert-systemwandel-landwirtschaft-569011