Die Arbeit und ihre Rollenumkehr
Freizeit- und Arbeitsforscher Peter Zellmann erklärt, wieso der Begriff „Work-Life-Balance“ falsch verwendet wird, wie Polarisierung der Gesellschaft schadet und was Arbeitgeber zu lernen haben.
Die „Vier-Tage-Woche“ polarisiert. Work-Life-Balance polarisiert. Remote-Work polarisiert. Der Fachkräftemangel schockiert. Und polarisiert. Nicht nur die Welt ist im Wandel, sondern die Arbeit selbst durchläuft starke Veränderungen und sucht eine stabile neue Normalität.
Die Arbeit und ihre Rollenumkehr
Peter Zellmann ist Autor, Arbeits- und Freizeitforscher. In seinen Augen erleben wir aktuell grundlegende Veränderungen in vielen Bereichen.
„Die wichtigste Erkenntnis ist, dass sich die Rolle von Arbeitgeber und Arbeitnehmer umgedreht hat“, sagt er. „Heute müssen sich häufig Dienstgeber bei Mitarbeitern bewerben. Früher war das umgekehrt. Dies gilt vor allem im Dienstleistungsbereich, in Hotellerie und Gastronomie.“
Home-Office als neue Dimension
Eine weitere große Umkehr sei, dass der Weg zum Arbeitsplatz in Zukunft viel weniger notwendig sein werde, denn das „Home-Office“ habe – dort, wo es möglich sei – eine neue Dimension der Gestaltung der Arbeitswelt aufgezeigt.
„Diese beiden Entwicklungen stehen erst am Beginn. Jetzt allerdings zu wissen, wie es in fünf Jahren aussehen wird, ist reine Scharlatanerie“, betont Zellmann, der jedoch denkt, dass die personenbezogene Dienstleistung der eigentliche Wertschöpfungsfaktor der Zukunft ist und Veränderungen auch in die handwerk-gewerbliche Produktion hineinreichen werden.
Digitalisierung als Werkzeug
„Der entscheidende Faktor in Qualitätserbringung wird sein, wie nahe ich bei meinem Kunden bin, um dessen Bedürfnisse zu erfüllen. Dies führt zu einer wichtigen Erkenntnis: Die Digitalisierung ist nicht die Zukunft, sondern ein Werkzeug, die Zukunft zu gestalten“, präzisiert der Forscher. „Sie ist wichtig, richtig und unumkehrbar, macht sie aber nicht aus. Digitalisierung und Automatisierung ermöglichen es, mehr Zeit zu haben, den eigenen Mitarbeiter für Gast und Kunden freizuspielen. Ob im Home-Office oder im Büro ist sekundär.“
Dass nicht alle glücklich und einverstanden sind mit dieser und anderen diversen Entwicklungen und neuen Sichtweisen auf die Arbeitswelt – und dagegen argumentieren – ist mittlerweile nichts Neues. Die Art aber, wie diese Diskussion geführt wird, ist für Zellmann jedoch äußerst problematisch. Und eine Abkehr zur Aufklärungsgesellschaft.
Polarisierung als Gesellschaftsproblem
„So wie jeder Diskurs, wird auch dieser sofort polarisiert“, sagt er. „Es gibt nur noch ein ‚entweder oder‘, ein ‚ja und nein‘, ein ‚richtig oder falsch‘. Eine gesellschaftlich schlimmere Entwicklung kann es gar nicht geben. Wir hören nicht mehr zu, um zu verstehen, was mein vis-à-vis meint, sondern um zu antworten.“
Höre man sich Diskussionen im Radio an, sehe sie im TV oder lese sie im Feuilleton oder auf Social Media, so würde man immer den gleichen Effekt sehen. Diskutanten wüssten beim Gegenüber nach ein, zwei Sätzen bereits, was „falsch“ sei. Dass es vielleicht noch weitere Erklärungen bräuchte, nicht um recht zu geben, sondern, um zu verstehen, werde meist ignoriert.
Die Polarisierung ist das Schlimmste in unserer gesellschaftlichen Entwicklung, so Zellmann. Sie erfasse alle Lebensbereiche. „Es gibt kein politisches oder wissenschaftliches Thema mehr, das nicht zur Polarisierung überleitet. Auch im privaten Bereich, innerhalb von Familien oder zwischen alt und jung. Doch statt diesem ‚entweder oder‘ gibt es auch ein ’sowohl, als auch‘. – Polarisieren heißt nur, dem anderen nicht wirklich zuhören und vermeintlich vorab zu wissen, was richtig und falsch ist.“
Wenn Begriffe einer Agenda dienen
Dieser Problematik liegt etwas zugrunde, was sich gerade im Wirtschaftsbereich als verhärtete Fronten erkennen lässt. Während, Mitarbeiter*innen von Arbeitgebern bessere Bedingungen, mehr Gehalt, flexible Zeiten oder Sinnhaftigkeit im Beruf fordern, so zeigen auch Bewegungen wie „Quiet Quitting“ (nur das Nötigste tun), dass der oft vorgeschobene Begriff „Leistung“ zunehmend von der Mitarbeiterschaft kritisch gehandhabt wird.
„Freizeit“ an sich wird hierbei im selben Atemzug von manchen Seiten bereits negativ konnotiert und dem Hedonisten-Daseins-Wunsch zugeschrieben. Und Faulheit über allen Bedürfnissen gestellt, bei jenen, die Veränderungen in der Arbeitswelt fordern und leben wollen.
Zellmann indes hat einen gänzlich anderen Zugang zu dieser Entwicklung der letzten Jahre. Heute würden Menschen nämlich ihre Lebensstile nach Ganzheitlichkeit im Beruf und Freizeit ausleben wollen. Dies sei dem Wissenschaftler nach „kein Gegensatz“, der vor allem irreführenderweise von Begriffen wie ‚Work-Life-Balance‘ propagiert wird, sondern gehöre zusammen.
Work-Leisure-Balance
„Niemandem ist aufgefallen, dass zwischen Arbeit und Leben eben jener Gegensatz konstruiert wird. Etwa, wenn im Radio am Freitag ‚endlich Wochenende und keine Arbeit‘ ausgerufen wird. Menschen wird vorgegaukelt, dass wir so ticken. Wenn, dann wäre eigentlich ‚Work-Leisure-Balance‘ (Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit) der bessere Begriff, weil er das außerberufliche in seine Gesamtheit meint. Denn Freizeit hieß bisher, frei von Arbeit sein, statt frei für etwas.“
In diesem Sinne denkt Zellmann, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – als Ergebnis einer Entwicklung – schlussendlich angekommen ist. Eine Umkehr nicht möglich.
Mensch im Mittelpunkt
Für den Wissenschaftler gilt – für Wirtschaftstreibende ein „learning – , dass heutzutage der Mensch im Mittelpunkt zu stehen habe und man dessen Bedürfnisse ernst nehmen muss. Wenn man wisse, was jenem wichtig sei, dann erst könne man den Markt betreuen. Und man müsse die Fähigkeit entwickeln, Empathie (nicht zu verwechseln mit Sympathie) zu entwickeln, sich also in den anderen für den Augenblick hineinversetzen zu können. „Das muss man einfach lernen“, rät er.
Momcilo Nikolic, 13. 9. 2022, https://brutkasten.com/
Zum Artikel im Brutkasten: https://brutkasten.com/arbeitsforscher-zellmann-ueber-den-irrtum-von-work-life-balance-und-polarisierung/
Zu Peter Zellmann: https://www.freizeitforschung.at/