Schluss mit den moralischen Gesten!

GASTKOMMENTAR von Leander Steinkopf – NZZ, 12.8.2023:

Schluss mit den moralischen Gesten!

Die willkürlichen Regeln der Klimaschützer bringen nichts und spalten die Gesellschaft.

Ist es tatsächlich besser, auf dem Transatlantikflug ein Buch über die Klimakrise zu lesen als den Sommer Fleisch grillierend im Schrebergarten zu verbringen?

Neulich auf einer Abendveranstaltung unter Literaten. Drinnen war die Lesung langweilig, weshalb sich immer mehr Leute draußen drängten. Ich kam mit einer jungen Erfolgsautorin ins Gespräch, weil sie sich über das Etablissement ärgerte, das für den Event ausgewählt worden war. Wie man hier denn eine Veranstaltung machen könne, empörte sie sich, die hätten ja sogar Tatar auf der Karte!

Ich war gerade von einem längeren Aufenthalt in Polen zurück, bei dem es mir durchaus gefallen hatte, dass dort – neben Bigos, Borschtsch und Pierogi – Tatar zu den Standardgerichten einfacher Lokale gehört. Diese Gerichte waren mir gemütlich und liebenswert erschienen, eher besänftigender «Soul Food» als Nahrung, die Empörung auslöst. Ich verstand die Verärgerung nicht. Gab es etwa eine direkte Verbindung vom Faschierten zum Faschismus?

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Wie Unternehmen ihren CO2-Footprint ermitteln

CO2-Reduzierung:

Wie Unternehmen ihren CO2-Footprint ermitteln

Die EU soll bis 2050 klimaneutral werden. Diese ambitionierte politische Ansage wurde mit der Verabschiedung des EU Green Deals verpflichtend und betrifft damit auch die Wirtschaft und Industrie der einzelnen Mitgliedstaaten. Europäische Unternehmen müssen nun rasch Mittel und Wege finden, ihre CO2-Emissionen in den nächsten Jahren sukzessive zu reduzieren. 

Und als wäre das nicht Herkulesaufgabe genug, ist eine der wichtigsten Vorgaben noch nicht einmal definiert: Was ist überhaupt der CO2-Fußabdruck und wie berechnet man ihn? Welche Herausforderungen muss ein Unternehmen meistern und welche Schritte gehen, um die Weichen erfolgreich Richtung Nachhaltigkeit zu stellen? Einige hilfreiche Denkanstöße und Erfahrungswerte möchte ich in diesem Beitrag mit Ihnen teilen. 

Was ist der CO2-Footprint?

Der CO2-Footprint bezeichnet das Ergebnis einer Emissionsberechnung, bzw. einer CO2-Bilanz. CO2-Footprints kann man für ein ganzes Unternehmen, für Teilbereiche, für Produkte oder auch für einzelne Projekte bzw. Investitionen berechnen. Der CO2-Footprint bildet jene Menge an Treibhausgasen ab, welche durch eine Aktivität oder einen Prozess freigesetzt werden. Bei der Ermittlung des CO2-Footprints eines Unternehmens kommt es grundsätzlich darauf an, wann und wo die Emissionen anfallen, z.B.:

  • direkt im Produktionsbereich (Unternehmen)
  • durch den Einkauf der benötigten Energie, Produkte und Dienstleistungen
  • im Rahmen der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette (Transport, Logistik), bei Anlieferung von Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen sowie beim Transport zum Kunden
  • Dienstreisen, Hotelübernachtung, Veranstaltungen etc., oder
  • bei der Verwendung bzw. Verwertung und Entsorgung der hergestellten Güter (Kunde)

Warum messen Unternehmen ihren CO2-Footprint?

Für Unternehmen ist der CO2-Footprint das wichtigste Bewertungsinstrument zur Bewertung ihrer Treibhausgasemissionen. Er fließt in die Ökobilanz ein, wird in Nachhaltigkeitsberichten angegeben und bei der Kostenplanung berücksichtigt. Der CO2-Fußabdruck macht sichtbar, in welchen Bereichen Emissionen freigesetzt werden, wo sich Hot Spots in der Fertigungskette befinden und wo Potenzial für Verbesserungen und Einsparungen vorhanden ist. Darüber hinaus bildet er die Grundlage für die Formulierung betrieblicher Klimaziele (z.B. Science Based Targets). 

Auch für Stakeholder eines Unternehmens gewinnen Informationen zum CO2-Footprint zunehmend an Bedeutung:

  • Investorensehen enorme Wachstums- und Ertragspotenziale in der Förderung nachhaltig agierender Unternehmen.
  • Bankenberücksichtigen nach Maßgabe der europäischen Bankenaufsicht sowie geltender EBA-Richtlinien die ESG-Kriterien (Environmental Social Governance). Die Zinsen für einen Kredit bemessen sich unter anderem danach, ob die ESG-Kriterien erfüllt werden bzw. entscheiden diese auch darüber, ob eine Kreditfreigabe überhaupt erfolgt.
  • Kundenfragen immer öfter nach sauberen Produkten und Dienstleistungen und berücksichtigen diesen Aspekt bei ihren Kaufentscheidungen.
  • Einkäuferprüfen zur Optimierung ihres eigenen CO2-Fußabdrucks die Klimaschutz-Standards bei Produzenten und Zulieferbetrieben.
  • Junge Talentemachen ökologische Bemühungen und grüne Initiativen eines Unternehmens immer mehr zum Entscheidungskriterium für die Wahl ihres zukünftigen Arbeitgebers.

Wie wird der CO2-Footprint berechnet?

Die wichtigsten internationalen Standards zur Berechnung des CO2-Fußabdrucks sind das Greenhouse Gas Protocol sowie die ISO-Norm 14064. Diese ordnen Treibhausgasemissionen von Unternehmen aber auch für den öffentlichen Bereich folgenden drei Bereichen zu: 

  • Scope 1:Direkt erzeugte Emissionen aus Brennstoffen im Betrieb bzw. durch Transportaktivitäten sowie flüchtige Emissionen (z.B. unbeabsichtigte Lecks).
  • Scope 2: Emissionen durch zugekaufte Energie, wie Strom, Dampf, Wärme oder Kälte.
  • Scope 3:Alle anderen indirekten Emissionen, die ein Unternehmen im Rahmen seiner Wertschöpfungskette freisetzt. 

In 4 Schritten zur aussagekräftigen Treibhausgasbilanz

Für die Ermittlung einer aussagekräftigen Treibhausgasbilanz empfehlen sich folgende 4 Schritte: 

Schritt 1: Definieren Sie Ziele und Grenzen: Definieren Sie die Grenzen Ihres Unternehmens und entscheiden Sie, für welche Scopes der Fußabdruck erstellt wird.

Schritt 2: Erheben Sie Aktivitätsdaten: Ermitteln Sie, welche Ihrer Aktivitäten und Prozesse CO2-Emissionen verursachen und zu welchen Scopes diese gehören.

Schritt 3: Bestimmen Sie CO2-Emissionsfaktoren: Definieren Sie die zu einer Aktivität oder einem Prozess zugehörigen Emissionsfaktoren und bestimmen Sie auf diese Weise, wie CO2-intensiv diese ausfallen.

Schritt 4: Erstellen Sie Ihre Treibhausgasbilanz: Auf Basis der vorangegangenen Schritte können Sie die Emissionen Ihres Unternehmens zu einer aussagekräftigen Treibhausgasbilanz konsolidieren. 

Herausforderungen bei der Berechnung des CO2-Fußabdrucks

Jedes Unternehmen ist anders. Dennoch müssen bei der Berechnung des CO2-Fußabdrucks fast überall dieselben Hürden genommen werden. Folgenden Herausforderungen muss sich jede Organisation früher oder später stellen, wenn es den Weg zu mehr Klimatransparenz und Nachhaltigkeit einschlägt:

  • Unterschiedliche Auslegung von Standards
    Werden Emissionen dem Produkt zugerechnet oder dem Unternehmen? Und wo zieht man den Trennstrich? Diese Problematik stellt sich speziell bei Treibhausgasemissionen, die nicht direkt durch die Herstellung eines Produkts entstehen, wie beispielsweise Dienstreisen.  

    Es gibt viele Ansätze und Herangehensweisen zur Ermittlung des CO2-Fußabdrucks, jedoch ist die Umsetzung von Standards wie dem GHG Protocolbis zu einem gewissen Grad Auslegungssache. Manche Unternehmen beschäftigen sich nur mit den Scope 1 und 2 Emissionen, andere betrachten auch Scope 3, davon manchmal aber nur ein paar Kategorien. Unternehmensübergreifend vergleichbare Ergebnisse bleiben dadurch meist eine Wunschvorstellung.

  • Mangelnde Datenbasis und -qualität
    Beim Heranziehen von Standards können die Berechnungsmethode und auch die zugrunde liegenden Faktoren zu Problemen führen. Denn obwohl es für Unternehmen schon sehr viele Tools zur einfacheren Berechnung ihres CO2-Fußabdrucks gibt (z.B. von ConClimateCarbonCareoder KlimAktiv), stellt sich immer die Frage nach der Quelle und Qualität der dafür herangezogenen Daten.  

    Davon sollte man sich nicht abschrecken lassen, denn in der Regel können Unternehmen auf sehr viele Primärdaten zugreifen. Falls nicht, sollte man einfach mit Schätzwerten und groben Berechnungen starten. Auf diese Weise schafft man eine erste Datenbasis, auf der man weiter aufbauen und später solidere Ergebnisse erzielen kann. Ein Start mit Schätzwerten und eine Priorisierung nach Ausgaben, z.B. über eingekaufte Waren, bietet den Vorteil, dass man die Relevanz bestimmter Faktoren einzuschätzen lernt und Gewichtungen vornehmen kann. Ist ein Emissionsfaktor im Vergleich zu anderen sehr klein, dann reichen hier auch in Zukunft grobe Annahmen aus. 

  • Finden des passenden Emissionsfaktors
    Aufgrund der verschiedenen Informationen und Werte ist es gerade für Laien äußerst schwierig, den passenden Emissionsfaktor, beispielsweise für ein Abfallprodukt oder einen bestimmten Rohstoff, zu finden. Unabhängig von der Materialgüte kann bei der vorgelagerten Wertschöpfungskette von Stahl oder bei Treibstoffen sehr schwer nachvollzogen werden, was alles in die Berechnung miteinfließen muss. 

    Man kann versuchen reale Daten der Lieferanten zu erheben (Primärdaten). Wenn diese nicht  verfügbar sind sollte man diese mit Werten aus bestehenden Datenbanken für Sekundärdaten, wie z.B. ecoinventGaBioder Umweltbundesamt, abgleichen und darauf aufbauend lokale Emissionsfaktoren berechnen. Wenn die Datenbanken keine brauchbaren Daten liefern, sind Veröffentlichungen von Instituten bzw. Ministerien oder wissenschaftliche Publikationen die nächste Alternative. Kommt man auch auf diese Weise zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen, empfiehlt sich auch hier wieder die Arbeit mit Schätzwerten.

  • Mangelnde Vergleichbarkeit
    Obwohl einige CO2-Standards verfügbar sind, ist es wenig praxistauglich, den Emissionswert von Stahl mit jenem einer Kaffeemaschine zu vergleichen, um aussagekräftige Benchmarks zu ermitteln. Hier stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich vergleichbar machen zu wollen. Nach derzeitigem Erkenntnisstand liefert nur ein Vergleich innerhalb derselben Branche brauchbare Ergebnisse, wobei jede Datenbank auf anderen Berechnungsfaktoren beruht und diese relativ selten übereinstimmen.

Maßnahmen bei Welser Profile zur Ermittlung des CO2-Footprints

Wir haben gesehen: die Ermittlung des CO2-Footprints ist aus verschiedenen Gründen nicht immer einfach und stellt Unternehmen mitunter vor große Herausforderungen. Wie gehen wir bei Welser Profile mit der Tatsache um, dass wir unseren größten Emissionsfaktor, den zugekauften Stahl, bestens kennen, er zugleich aber unser täglich Brot ist? Ein nachhaltiger Umgang mit dem Material Stahl ist bei uns keine Zukunftsmusik, sondern Alltag und wir müssen uns stetig in unserer Zielerreichung verbessern. 

Bei Welser Profile setzen wir zur Ermittlung unseres CO2-Footprints auf diese 4 Maßnahmen: 

  • Einführung eines Umwelt- und Energiemanagementsystems
    Wir haben ein Umwelt– und Energiemanagementsystem implementiert, in dem alle für die Ermittlung der betrieblichen CO2-Emissionen relevanten Informationen zusammenlaufen. Dies umfasst unter anderem Daten zu Verpackungen, Werkzeugstählen, Abfällen sowie Werks-, Hilfs- und Betriebsstoffen.
  • Aufbau von Wissen
    Basierend auf dem Geschäftsjahr 2019 haben wir über die letzten Monate mit sehr viel Aufwand und nach dem Learning by Doing-Prinzip eine interne Wissensdatenbank aufgebaut. Anhand dieser Grundlage konnten wir nun fundiertere Berechnungen vornehmen und unseren CO2-Footprint ermitteln. In Folge werden wir uns nun jene Bereiche ansehen, für die man Ziele zur Reduktion der Emissionen definieren kann und entsprechende Maßnahmen planen. Zur besseren Ermittlung der unternehmensbezogenen CO2-Emissionen ist darüber hinaus ein jährlicher Bericht geplant, der alle dafür relevanten Informationen zentral und nachvollziehbar zusammenfassen wird.
  • Einbindung von externem Know-how
    Gerade wenn man nach dem Learning by Doing-Prinzip neue Pfade beschreitet, ist ein regelmäßiger Blick von außen sehr wichtig. Bei Welser Profile lassen wir daher unsere Pläne und Maßnahmen von erfahrenen Experten gegenprüfen. So haben wir aktuell ein Kooperationsprojekt mit Ecoplus laufen, im Rahmen dessen uns Berater bei der Scope 3-Berechnung unterstützen sowie bei der Wahl des richtigen Emissionsfaktors.
    Gemeinsam arbeiten wir an der Beantwortung jener Fragen, die ganz spezifisch die Anforderungen unserer Branche bzw. unseres Unternehmens betreffen.
  • Baukastenprinzip für produktbezogenen CO2-Fußabdruck
    Für die Ermittlung des produktbezogenen CO2-Fußabdrucks entsteht derzeit ein Prozess, der im Laufe des Jahres 2023 validierungsfähig sein wird. Seine Grundlage ist die Einführung eines Baukasten-Prinzips. Basierend auf Vorjahreswerten soll die Berechnung unter Berücksichtigung folgender variablen Größen durchgeführt werden:   

    • Anlieferung des Vormaterials
    • Profilproduktion mit dem zugeordneten Energieverbrauch
    • verwendete Betriebsmittel
    • Transport unserer Profile zum Kunden

Fazit: Kein aussagekräftiger CO2-Fußabdruck ohne Eigeninitiative

Das Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit rückt immer schneller an die Spitze der betrieblichen Herausforderungen und wird dort, schon alleine wegen des Drucks durch den Gesetzgeber, nicht mehr verschwinden. Umso wichtiger ist es, dass Unternehmen jetzt selbst aktiv werden, sich eingehend mit der Thematik auseinandersetzen und notwendige Weichen für die Umsetzungsphase stellen. Learning by Doing ist dabei ein wichtiger Teil des Prozesses. Externe Berater können zwar wichtige Inputs liefern, ein interner Wissensaufbau ist jedoch für die Ausarbeitung neuer Standards sowie die Umsetzung diesbezüglicher Maßnahmen unerlässlich. 

Mein Tipp:

Sorgen Sie in Ihrer Organisation rechtzeitig für die notwendigen personellen Ressourcen. Datenbanken alleine reichen für die Berechnung des CO2-Footprints nicht aus. Es braucht Fachkräfte, die die richtigen Daten finden, entsprechend zusammenführen und auswerten. 

Fangen Sie einfach einmal an, probieren Sie verschiedene Zugänge aus und tasten Sie sich immer weiter voran. Denn das Einzige, was Sie wirklich falsch machen können, ist den Kopf in den Sand zu stecken und gar nichts zu tun. Alles andere ist schon ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. 

 

Verfasserin: Ingrid Steindl, 31.1.2023

Quelle: https://blog.welser.com/de/co2-footprint-ermitteln?utm_term=&utm_campaign=EMX_DACH_PMax_%20Blog&utm_source=adwords&utm_medium=ppc&hsa_acc=6080969670&hsa_cam=18520423384&hsa_grp=&hsa_ad=&hsa_src=&hsa_tgt=&hsa_kw=&hsa_mt=&hsa_net=adwords&hsa_ver=3&gclid=CjwKCAjwsvujBhAXEiwA_UXnAKevMRFIbYWfwpuSZh8ObQu5sm0BFGHTT0VU-v0PHV9tVzL-IsIcDBoC5W0QAvD_BwE&fbclid=IwAR1n-eBbKg8WRCOsgURynW7iw0DmYf3ZTERHdocfE7zLsJiJW5QZLM7wYKs

 

 

 

Ernährung, Klimawandel und Gesundheit

Ernährung, Klimawandel und Gesundheit

Passend zum Earth Day veröffentlichen wir diesen Vortrag von Dr. med. Lisa Pörtner über den Einfluss, den unsere Ernährungsgewohnheiten auf die Gesundheit unseres Planeten haben, welche gravierenden Konsequenzen diese Essgewohnheiten bereits jetzt auf das Klima, die Natur, die Biodiversität, unsere Gesundheit und letztendlich auf unsere (Über)Lebensfähigkeit auf diesem Planeten haben und was passieren wird, wenn wir die notwendige Ernährungstransformation nicht hinbekommen.

Unsere Ernährungsweise beeinflusst nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch die Gesundheit des Planeten. Es gibt vielfältige Zusammenhänge zwischen dem heutigen Ernährungssystem und der Klimakrise, der Biodiversitätskrise und anderen gravierenden Umweltproblemen. Hieraus resultieren wiederum negative Gesundheitsfolgen für den Menschen – im Sinne der Planetaren Gesundheit. Doch was muss passieren, um ein Ernährungssystem zu schaffen, welches Mensch und Umwelt schützt und zu einer gesunden Zukunft beiträgt? Um all dies geht es im Vortrag „Ernährung im Kontext von planetarer Gesundheit“ von Dr. Lisa Pörtner im 25. Berliner Tierschutzforum am 18. April 2023.

Dr. Lisa Pörtner ist Fachärztin für Innere Medizin mit Zusatzbezeichnung Geriatrie und Ernährungsmedizin. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe „Klimawandel und Gesundheit“ der Charité und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung tätig und forscht dort zu gesunder und nachhaltiger Verpflegung an Gesundheitseinrichtungen. Zudem ist sie bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG e.V.) für den Bereich „Ernährung und Planetary Health“ zuständig.

Wie sich ein ganzer Ort mit den Erbauern eines neuen Hotels mitfreut

Pioniere der Peripherie:

Wie sich ein ganzer Ort mit den Erbauern eines neuen Hotels mitfreut

Von Stefan Hackl

In den vergangenen Monaten haben meine Frau und ich die Route unserer Spaziergänge geändert. Das klingt nach keiner großen Tat. Aber wir leben in Lunz am See. Und in Lunz am See führt jeder Spaziergang und Lauf, jeder Nordic Walk und Radausflug zum – Lunzer See. Das liegt auf der Hand, man könnte sich kein lohnenswerteres Ziel ausmalen.

Aber zuletzt sagten wir immer öfter: „Gemma die Refugium-Baustelle anschauen“. Denn seit bekannt geworden ist, dass Joachim Mayr und Heinz Glatzl das Jarosch-Haus am Kirchenplatz zu einem Hotel umbauen, fieberte der ganze Ort mit diesem monumentalen Projekt mit. Jede Bewegung auf der Baustelle wurde verfolgt, jede Bauetappe bestaunt. 500 Lunzerinnen und Lunzer, also fast jeder dritte Bewohner des Orts machte sich beim „Tag der offenen Tür“ Anfang März selbst ein Bild von den Umbauarbeiten.

Seit den Osterferien ist das „Refugium Lunz“ eröffnet. Und flugs waren berührende persönliche Berichte auf Social Media zu finden. Ein gewisser Stolz der Lunzerinnen und Lunzer ist zu bemerken, eine echte Mitfreude mit den mutigen Machern zu spüren. Doch warum ist das so? Warum versetzt gerade dieses Hotel eine Ortschaft in solch positive Schwingungen und was können wir daraus für die Orts- und Regionalentwicklung lernen? (mehr …)

Nachhaltigkeit” für diese und künftige Generationen

„Nachgefragt: Viertel vor Haas“

 Christian Lenoble (Die Presse) im Gespräch mit TÜV AUSTRIA CEO Stefan Haas.

Folge 1: “Nachhaltigkeit” für diese und künftige Generationen

Wenn es um das Thema Klimaschutz geht, wird von Experten immer öfter auf die Dringlichkeit bei der Umsetzung von konkreten Maßnahmen hingewiesen. An hoch gesteckten Zielsetzungen herrscht bei den Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz kein Mangel. Bis zum Jahr 2030 will Österreich seinen Strombedarf zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen decken, bis 2040 soll die Klimaneutralität erreicht werden. Der gemeinsame Nenner aller Bemühungen liegt in der Vision, zukünftigen Generationen einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen. Zugleich sieht sich das Land mit den Aktionen einer Bewegung konfrontiert, die auf die Versäumnisse bei der Umsetzung hinweist und sich als „Letzte Generation“ auf internationale Stimmen wie jene von UN-Generalsekretär António Guterres beruft: „Wir brauchen Störung, um die Zerstörung zu beenden. 2023 ist ein Jahr der Abrechnung. Es muss ein Jahr sein, in dem sich das Klima grundlegend ändert.”

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Woran wir ein zukunftsfähiges Dorf erkennen

Woran wir ein zukunftsfähiges Dorf erkennen: Von Reinsberg lernen

Veröffentlicht am 24. Juni 2022

von Stefan Hackl, Geschäftsführer bei Eisenstraße Niederösterreich.

 

Vorbemerkung Hans Rupp:

Starker Artikel. Eine Expertise und eine Analyse, wie sie nur von jemandem sein kann, der VERBUNDEN ist. Ich meine: Pflichtlektüre für alle regionalen und lokalen Gestalter*innen!

 

Ein Dorf ist die ideale Einheit, um die Welt zu einem besseren Platz zu machen. Dieser Satz kam mir in dem Sinn, als ich am vergangenen Sonntag der Eröffnung des neuen Dorfzentrums in der 1.000-EinwohnerInnen-Gemeinde Reinsberg in Niederösterreich beiwohnen durfte. Ich habe selten so viel Zuversicht, Talent, Engagement und Stolz – gebündelt an einem Ort – gesehen.

In einem 10-jährigen Prozess hat es die kleine Ortschaft geschafft, ihrem Ortskern ein komplett neues Gesicht zu geben: mit einem mit 40.000 Schindeln bedeckten Kulturhaus namens MUSIUM, mit einem zu 100 Prozent aus EU- und Landesmittel finanzierten Kindergarten, mit einer frisch restaurierten Kirche und einem Dorfplatz, der all das miteinander verbindet. Das ist noch nicht alles: Heuer wird mit dem Neubau des auf Vereinsbasis geführten Nahversorgers begonnen und ein betreutes Wohnhaus mit 24 Einheiten wird zeitnah ebenfalls mitten im Ort aus dem Boden wachsen.

Wie schaffen das die Reinsberger, die schon vor mehr als 20 Jahren den Europäischen Dorferneuerungspreis gewonnen haben und in deren Gemeinde so viele junge Menschen wie in keinem anderen Ort der Umgebung leben? Und vor allem: Was können wir von Reinsberg lernen? Lassen sich aus dem Reinsberger Modus operandi Punkte ableiten, die zukunftsfähige Gemeinden auszeichnen?

Die Reinsberger sind nicht digitaler, progressiver, reicher oder innovativer als andere Orte. Ich glaube, sie und andere zukunftsfähige Dörfer zeichnen sich stattdessen durch eine Kombination von sechs durchaus traditionellen Merkmalen aus, die miteinander eine unglaubliche positive Gestaltungskraft entfalten und zu einem hohen Maß an Zukunftsfähigkeit führen. 

Diese sechs Faktoren sind wie Stellschrauben, an denen Gemeindeverantwortliche drehen können, um Innovationen zu ermöglichen oder um Blockaden zu lösen:

  1. TALENT

Leitfrage: Gelingt es uns, die Talente unserer Dorfgemeinschaft zu nutzen?

Dieser Punkt reicht weit über die herkömmlichen Vorstellungen von Bürgerbeteiligung hinaus. Es geht nicht bloß darum, BürgerInnen im Rahmen einer Zukunftswerkstatt oder ähnlicher Formate punktuell abzuholen, einzubinden, zu befragen. Zukunftsfähige Dörfer machen das auch, aber sie schaffen es darüber hinaus, die Talente, Spezialisierungen und Fertigkeiten ihrer Dorfgemeinschaft viel regelmäßiger und intensiver zu nutzen und inwertzusetzen.

Ein Beispiel: Bei der Eröffnung des Reinsberger Kulturhauses wurde ein professionell geschnittener, mit Drohnenaufnahmen gespickter Zeitraffer-Film über die Baustelle gezeigt, in atemberaubenden Perspektiven, sodass man ein großes Filmteam dahinter vermuten würde. Gestaltet hat es aber ein Mitglied aus der Dorfgemeinschaft, in dem er sein Talent als Videoproducer eingebracht hat.

Dutzende weitere solcher Beispiele könnte man für Reinsberg anführen und sie allesamt zeigen: Ein zukunftsfähiges Dorf hofft nicht auf das indifferente Engagement seiner BürgerInnen, es engagiert sie. Aktiv und konkret. Und diese bringen ihre Talente und Fertigkeiten gerne ein. So wird das Dorf zur kollaborativen Unternehmung mit einem Überangebot an Talenten.

Wenn Sie also auf die Frage, wer in Ihrem Dorf in bestimmten Bereichen wirklich spitze und herausragend ist, wenige Antworten wissen oder wenn Sie die Exzellenz und das Engagement dieser Menschen in Projekten oder Veranstaltungen noch zu wenig nutzen, dann besteht Handlungsbedarf.

  1. AGENDA

Leitfrage: Arbeiten wir an Vorhaben, die uns nach vorne bringen und wachsen lassen, die ehrgeiziger und größer als das Tagesgeschäft sind, an Dingen, mit denen sich Menschen identifizieren können?

Zukunftsfähige Dörfer besitzen die Fähigkeit, ihre Energie auf einige wenige Dinge hin zu bündeln. Sie schaffen es, eine Agenda aufzustellen und durchzusetzen, in der die „größtmögliche gemeinsame Herausforderung“ im Mittelpunkt steht (eine wunderschöne Formulierung von Christoph Engl, dem Mastermind der Marke Südtirol und heutigen Oberalp-CEO).

Der Reinsberger Gemeinderat hat 2012/2013 diese „größtmögliche gemeinsame Herausforderung“ für das Dorf identifiziert: die Neugestaltung der Dorfmitte mit einem Investitionsvolumen von 10 bis 12 Millionen Euro. Das mag damals größenwahnsinnig geklungen haben, wie sich Bürgermeister Franz Faschingleitner bei der Eröffnung erinnerte, aber es war eine lohnenswerte Agenda, die mitriss.

Ein zukunftsfähiges Dorf ist demnach an ihrer Agenda, ihrer Projektliste zu erkennen. Es arbeitet immer an etwas Großem, Bedeutungsvollen für die eigene Dorfgemeinschaft und hat den Mut, dem weniger Bedeutsamen weniger Beachtung zu schenken. Ist der eine große Brocken geschafft, hat es schon den nächsten im Blick. 

Wenn die Agenda Ihrer Gemeinde nur in der Abwicklung des Tagesgeschäfts besteht, dann haben Sie in diesem Punkt ein deutliches Defizit. Fragen Sie sich: Gibt es ein oder mehrere Projekte, hinter dem sich viele Menschen unserer Gemeinde versammeln, das vielen von uns wichtig ist? Sind wir bereit, Großes anzupacken und dabei auch ein Risiko einzugehen?

  1. HALTUNG

Leitfrage: Sind wir genügend selbstbewusst und ausreichend selbstkritisch?

Zukunftsfähigen Dörfern mag es mitunter an finanziellen Mitteln mangeln, an einem fehlt es ihnen bestimmt nicht: an Selbstbewusstsein. Die Einwohnerinnen und Einwohner sind stolz, Teil dieser Gemeinde zu sein und sie scheuen sich auch nicht davor, das sehr klar zu artikulieren. Beim Festakt in Reinsberg hörte ich nicht nur einmal, dass die Gemeinschaft in Reinsberg etwas Besonderes sei.

Zukunftsfähige Orte brauchen genau diese innere Überzeugtheit und diese positive Grundhaltung: Dort, wo andere jammern, packen sie an. Dort, wo andere resignieren, fangen sie erst richtig an.

Stagnierende oder gar resignierende Dörfer haben diese Qualität nicht: Hier regiert eine latent-depressive Grundstimmung: Wir verlieren, wir geraten ins Hintertreffen, heute ist es schlechter als gestern und morgen wird es noch trostloser als heute sein.

Mit bloßer „Mia san mia“-Mentalität darf man diesen selbstbewussten Charakterzug von zukunftsfähigen Dörfern nicht verwechseln. Stolz geht hier mit einer gesunden Portion Selbstkritik einher. Als der Reinsberger Bürgermeister Franz Faschingleitner die Projektgeschichte vom Dorfzentrum erzählte, klang das nicht nach einer schöngefärbten Jubeladresse, sondern nach einer Darstellung mit vielen Höhen und Tiefen.

Ein zukunftsfähiges Dorf sieht sich bei all den Schwierigkeiten und Herausforderungen immer selbst am Steuer – und nicht auf dem Schleudersitz der Geschichte. Mit diesem Vertrauen ausgestattet fällt es bedeutend leichter, Risiken einzugehen und Großes zu wagen (siehe Agenda).

Ein Lackmustest für die Haltung eines Dorfs ist oft das örtliche Diskussionsforum auf Social Media: Überwiegen hier die konkreten Tipps, die zu Handlungen motivierenden Beiträge oder jene des passiven Beklagens?

  1. ANBINDUNG

Leitfrage: Sind wir mit der Welt verbunden?

Ein zukunftsfähiges Dorf ist keine Insel, keine in sich-gekehrte heile Welt. Vielmehr versteht es meisterlich, sich in Netzwerke auf allen möglichen Ebenen einzuklinken. Wieder Reinsberg: Den ersten Plan für die neue Dorfmitte schmiedete die Dorfgemeinschaft mit dem international renommierten Architekturbüro nonconform. Den Tipp für die 100-Prozent-EU-Förderung erhielt der Bürgermeister von einem Landtagsabgeordneten.

Die Offenheit für neue Impulse, das Hereinholen externer Expertise bewahrt vor Engstirnigkeit und es erhöht die Umsetzungschancen und die Umsetzungsqualität der gemeinsamen Agenda.

Viel ist von der Breitbanderschließung des ländlichen Raums die Rede, aber die intellektuelle Anbindung eines Dorfs an die Welt ist ebenso, wenn nicht sogar noch wichtiger als ein 100-Mbit-Anschluss. Zweiterer kommt in der richtigen Konstellation gleichsam wie von selbst.

Woran sehe ich, ob mein Dorf „connected“ ist? Ein zukunftsfähiges Dorf ist in einem steten Austausch mit Schlüsselpersonen und -institutionen in dessen Region, Bundesland und darüberhinaus. 

  1. WIR-MOMENTE

Leitfrage: Gibt es ausreichend Möglichkeiten der Begegnung, des gemeinsamen Feierns?

Am Eingang zum Festgelände in Reinsberg traf ich auf eine Bekannte, die freudig sagte: „Wir Reinsberger können halt feiern. Da können sich andere was abschauen!“ Da ist es wieder, das nicht zu klein geratene Selbstbewusstsein, aber in der Aussage verbirgt sich noch eine andere Qualität zukunftsfähiger Dörfer: Sie verstehen es, Wir-Momente zu schaffen – und das nicht als einmalige Kraftanstrengung (etwa zu einem Spatenstich), sondern in Serie geschaltet. So gibt es in Reinsberg die legendären Reinsberger Nächte, die Dorfweihnacht, das Dorffest …

Ein zukunftsfähiges Dorf kommt gerne und regelmäßig zusammen –  bei Veranstaltungen, aber auch durch die Gestaltung des Ortsbildes und das Schaffen von Begegnungsräumen.

Das Dorf kompensiert mit diesen Wir-Momenten die im Vergleich zu urbanen Räumen fehlende Dichte und schafft es auf diese Weise, neben dem Gemeinschaftsgefühl auch die Chance auf zufällige Begegnungen zu erhöhen. Und gerade diese sind es oft, die Neues entstehen lassen.

Wie ausgeprägt die Wir-Momente in meinem Dorf sind, lässt sich mit einer einfachen Frage erkunden: Hat unsere Dorfgemeinschaft derzeit genügend Gelegenheiten, sich zu treffen – bewusst und unbewusst?

  1. UNSERE ROLLE IN DER WELT

Leitfrage: Bringen wir etwas hervor, das auch für andere einen Mehrwert bringt? Sind wir relevant für die Welt um uns herum?

Diesen letzten Punkt finde ich besonders wichtig und er ist von der Purpose-Diskussion in der Wirtschaft inspiriert. Wozu ist unser Dorf in der Welt? Genügen wir uns selbst oder leisten wir darüber hinausgehend einen Beitrag?

Zukunftsfähige Dörfer haben Relevanz – auch in der Welt um sie herum. Reinsberg hat es geschafft, als Kulturdorf Kompetenz aufzubauen – zunächst mit der Burgarena, nun auch mit dem MUSIUM. Wenn Menschen Kunst und Kultur erfahren möchten, ist Reinsberg ein guter Platz für sie. Viele haben Reinsberg für diese Qualität kennen und schätzen gelernt.

Diese Differenzierung ist nicht mit der krampfhaften Suche nach einem Thema zu verwechseln, das sonst noch keiner besetzt hat (Stichwort Themendorf). Im Gegenteil: Zukunftsfähige Dörfer verfügen über ihnen eigene Qualitäten, die wertvoll auch für andere Menschen sind – durch eine besondere Geografie, durch eine besondere Fertigkeit oder eine spezielle Infrastruktur. In diesem Sinne teilen zukunftsfähige Dörfer gerne mit anderen, da ihnen ihre Rolle in der Welt bewusst ist und auch die Verantwortung, die damit verbunden ist. Denn es würde auch den anderen etwas fehlen, wenn das Dorf nicht mehr da wäre.

Sie können Sich also fragen: Gibt es in meinem Dorf etwas, was auch anderen Nutzen stiftet und kümmere ich mich ausreichend um diese Qualität?

 

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Zukunftsfähige Gemeinden sind keine Wunderwuzzis. Sie durchleben genauso Krisenphasen (frag Reinsberg), sie straucheln, sie kämpfen mit sich und anderen. Aber sie zeichnet eines aus: Sie machen bei folgenden Punkten öfters das Richtige als das Falsche:

  1. Talent
  2. Agenda
  3. Haltung
  4. Anbindung
  5. Wir-Momente
  6. Unsere Rolle in der Welt

Das führt uns zu einer sehr positiven Zukunftsperspektive:

Wenn wir an den richtigen Schrauben drehen, wird das Dorf im ländlichen Raum zur idealen „Organisationseinheit“, um den lokalen und globalen Herausforderungen zu begegnen. 

Nichts ist positiver und sinnstiftender für die Gestaltung unserer Welt von heute und morgen als ein Dorf, das auf Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist.

https://www.linkedin.com/in/stefan-hackl-728915173/

 

Bild:

Dorffest 2022 – Eröffnung des Musiums, Kindergarten und Dorfplatz Reinsberg, 19. Juni 2022

Foto: Gerald Prüller / Cleanhill Studios

Dennis Meadows: „Jeder Mensch hat die Wahl“

DIE ZEIT online:
Dennis Meadows: „Jeder Mensch hat die Wahl“

50 Jahre lang hat der Autor von „Die Grenzen des Wachstums“ versucht, den Planeten zu retten. Jetzt redet er zum letzten Mal darüber. Ein Interview

DIE ZEIT: Am Anfang und am Ende von Die Grenzen des Wachstums schrieben Sie nicht über Umwelt, sondern über menschliches Verhalten. Stehen unsere Verhaltensmuster uns im Weg?

Dennis Meadows: Ja. Der Homo sapiens ist seit mindestens 300.000 Jahren auf der Erde unterwegs. Während der Zeit haben die Leute, die zu überleben wussten, ihre Gene weitergegeben – und die anderen eben nicht. Nur leider hing das Überleben damals davon ab, auf die momentane, lokale Situation zu achten. Nehmen Sie zwei Höhlenmenschen, auf die ein Löwe zukam. Wer sofort loslief, war besser dran als jemand, der erst mal das Gesellschaftssystem analysierte. Heute ist es aber eine Tragödie, dass Menschen programmiert sind auf das Hier und Jetzt. Schließlich haben wir es mit Problemen zu tun, deren Folgen die Welt über Jahrhunderte betreffen.

ZEIT: Vor 50 Jahren erschien Ihr Report Die Grenzen des Wachstums. Die dunklen Vorhersagen von damals scheinen sich vor allem beim Klima zu erfüllen. Andere Bedrohungen wurden eingehegt, das Bevölkerungswachstum nimmt rapide ab …

Meadows: Vorsicht! In Wahrheit sieht man überall Zeichen, dass das Wachstum zu weit gegangen ist. Bei der Bodenerosion oder der Ozeanverschmutzung und allemal bei der Bevölkerung. Noch immer kommen jährlich 50 bis 100 Millionen Menschen hinzu. Da zu sagen, wir sollten glücklich sein, dass die Rate sinkt, ist etwas verzweifelt.

ZEIT: Viele Menschen streben heute nach immer mehr Wohlstand. Da liegt der Schluss nahe: Wir brauchen weiter Wachstum, damit die Gesellschaften nicht in Verteilungskämpfen untergehen. Andererseits hat die Menschheit bis vor 200 Jahren praktisch ohne Wachstum gelebt. Wie also hängen unsere Verhaltensmuster und die Wachstumsdebatte wirklich zusammen?

Meadows: Ja, erst in den vergangenen Jahrhunderten haben wir uns an Raten von zwei, drei oder auch fünf, sechs Prozent gewöhnt. Jetzt definieren viele Menschen ihr Glück als Wachstum statt einfach als das, was sie haben. Das Motto: Mein Haus ist besser, das Vermögen größer, das Auto schneller. Doch jedes System, das auf immer höheres Wachstum zielt, explodiert irgendwann – egal ob es sich um einen Automotor oder eine Volkswirtschaft handelt. Eine Voraussetzung für eine nachhaltige Gesellschaft ist, dass die Menschen nach einem „Genug“ streben statt nach einem „Mehr“.

ZEIT: Statt mit Weltuntergang zu drohen, wäre es vielleicht besser, zu beschreiben, wie eine lebenswerte, nachhaltige Zukunft aussehen könnte.

Meadows: Das stimmt. Die Menschen setzen sich nicht zusammen, schauen auf die dunkle Zukunft und nehmen dann Reformen vor. Große Veränderungen kamen bisher fast immer reaktiv: Wenn die alten Maßnahmen nicht mehr funktionieren und man einen Zusammenbruch erleidet, dann reagiert man – und das manchmal sogar konstruktiv.

ZEIT: Manchmal?

Meadows: Es gibt Beispiele im alten Byzanz oder im Römischen Reich, wo die Menschen auf ein Problem mit klugen Veränderungen reagierten, die dann lange funktionierten. Viel öfter aber gibt es allzu späte, chaotische Krisenreaktionen, die das Problem nicht lösen. Schauen Sie sich nur um. Die Nato reagiert jetzt auf eine Krise, die lange vorhergesagt war. Wir wissen, dass Bürger und Politiker oder auch soziale Systeme nicht auf negative Szenarios eingehen. Es braucht schon eine Hoffnung auf Besserung. Da liegt auch mein Bedenken bei der „Degrowth“-Bewegung gegen Wachstum. Diese legt ihren Finger in die Wunde, hat aber keine konstruktive Alternative zu bieten.

ZEIT: Haben Sie ein Beispiel, wie es besser geht?

Meadows: Eine Freundin in Tokio schrieb mir, sie wolle in Japan eine Degrowth-Gesellschaft aufbauen. Ich antwortete, sie solle sie anders nennen. Also schuf sie das Institut zur Erforschung des menschlichen Glücks. Es hat die gleiche politische Agenda. Aber jetzt empfängt der Premier sie. Also ja, wir brauchen die positiven Alternativen. Bloß gibt es da ein Dilemma.

ZEIT: Welches?

Meadows: Mit acht Milliarden Menschen auf dem Planeten in seinem heruntergekommenen Zustand, dazu mit unseren Zielen von Gleichheit und Wohlstand, gibt es keine realistischen und attraktiven Szenarios. Darin liegt ja meine Frustration. Und deshalb ist dies auch mein letztes Interview über die Grenzen des Wachstums.

„Wir sind immer noch besessen von physischer Expansion“

ZEIT: Könnte nicht Hoffnung entstehen durch eine andere Idee von Wohlstand, die uns wegholt vom Immer-Mehr an Ressourcen und Materialien? Die nichtmaterielle Dinge wertschätzt wie die Nähe zur Natur oder die gesundheitsfördernde Kraft einer nachhaltigen Gesellschaft?

Meadows: Sie fragen nach Hoffnung. Worauf?

ZEIT: Darauf, dass eine solche Idee positive Veränderungen hervorbringt.

Meadows: Zwei Dinge dazu. Erstens glaube ich eben nicht, dass man sich eine glückliche globale Zukunft mit dieser Anzahl Menschen vorstellen kann. Die würde zu viele physikalische Gesetze verletzen. Und wie es bei uns heißt: „Die Natur ist als Letzte am Zug.“ Zweitens könnte es aber auf der lokalen oder regionalen Ebene schon zu einem solchen Wandel kommen, wenn etwa eine Stadt oder auch ein Land die richtigen Werte hat. Eine Frage: Haben Sie Kinder?

ZEIT: Zwei.

Meadows: Okay. Bei der Geburt waren Sie stolz, wenn die Kinder stark und schwer waren. Auch als sie etwas älter wurden, waren Sie froh zu sehen, dass sie wuchsen und zunahmen. Aber irgendwann wollen Sie, dass das Wachstum aufhört und die Kinder an ihrer Entwicklung arbeiten. Dann sollen sie sich nicht Pfunde zulegen, sondern Sprachkenntnisse. Und genau diesen Übergang haben wir als Gesellschaft nicht geschafft. Wir sind immer noch besessen von physischer Expansion. Wenn wir damit aufhören und uns auf Zufriedenheit und Wohlstand, Gesundheit und Freundschaft konzentrieren könnten, wäre eine attraktive Gesellschaft innerhalb der planetaren Grenzen im Prinzip vorstellbar. Allerdings schreitet der Klimawandel jetzt schon außerhalb unserer Kontrolle voran und wird das wahrscheinlich noch das Jahrtausend über weiter tun. Es ist nämlich so: Wenn das Klima sich erst mal wandelt, dann dauert das – mit der Ausnahme der kleinen Eiszeit – tatsächlich Jahrtausende.

ZEIT: Das Wirtschaftswachstum nimmt im Westen schon länger ab. Die Schulden sind so hoch wie nie, und die Umweltkosten steigen. Stoßen wir jetzt an die Grenzen des Wachstums?

Meadows: Sie und ich hatten das Glück, in einer Zeit zu leben, die für die weißen, reichen Länder phänomenal war. Diese Zeit geht vorbei. Das heißt nicht, dass wir jetzt gegen eine Wand prallen. Wir sagten schon in dem Buch, dass Bevölkerungswachstum und materieller Konsum die endlichen Ressourcen des Planeten erschöpfen und man mehr und mehr Kapital brauchen wird, um das auszugleichen. Irgendwann fehlt Kapital, um das Wachstum aufrechtzuerhalten, und ab einem gewissen Punkt hört das Wachstum dann auf. Wir sind jetzt in dieser Phase, auch wenn das noch zugedeckt wird von aktuellen Fragen.

ZEIT: Und danach kommt was?

Meadows: Ich weiß nicht, welche Veränderungen das alles auslösen wird. An der Stelle endet auch unsere Arbeit von damals.

ZEIT: Brauchen wir also eine neue Studie?

Meadows: Heute würde ich es ganz anders anstellen als damals. Ich war 29 Jahre alt, Professor am MIT und reichlich naiv. Ich dachte, man identifiziert ein wichtiges Problem, erforscht die Lösungen und zeigt sie allen, und dann setzen die maßgeblichen Leute das um. Tun sie aber nicht. In Wahrheit muss man taktieren. Muss die Ziele und Wünsche der entscheidenden Leute kennen und eine Schnittmenge finden mit den richtigen Lösungen. Die schlägt man dann vor und schafft es, dass die Politiker glauben, sie hätten diese Lösungen selbst erfunden.

ZEIT: Klingt machbar.

Meadows: Vorsicht. Zur Lösung der Probleme braucht man einen langen Horizont. Diesen Horizont gibt es bei den einzelnen Menschen, die an ihre Kinder und Enkel denken, nicht aber bei der US-Regierung oder internationalen Organisationen. Nur sind sie es leider, die Macht und Ressourcen haben. Um etwas zu verändern, würde ich also nicht mit Washington und auch nicht mit den Vereinten Nationen und ihren Klimakonferenzen arbeiten, sondern mit einer Vereinigung von Städten, die etwas unternehmen wollen.

„Die Menschen bekommen die Systeme, die sie verdienen“

ZEIT: Ist vielleicht die Demokratie die falsche Struktur, um solche Veränderungen hinzukriegen?

Meadows: Das Thema ist nicht die Regierungsform, sondern der Zeithorizont. Und Sie brauchen in der Gesellschaft möglichst einheitliche Werte – nicht wie die Bundesebene der USA, die durch zwei ganz unterschiedliche Weltsichten fast komplett gelähmt ist. Ein Kollege brachte es mal auf den Punkt: Für die Rechte bedeutet der Waffenbesitz Freiheit und die Abtreibung Tod, für die Linke ist es genau umgekehrt.

ZEIT: Trotzdem hat man manchmal den Eindruck, man könne den chinesischen Klimaversprechen eher vertrauen als den europäischen.

Meadows: Es ging ja vielen so, dass sie von China und seinen Plänen fasziniert waren. Aber unter Präsident Xi schottet China sich teilweise von der Welt ab und riskiert seinen Wohlstand. Die Kommunistische Partei stellt ihr eigenes kurzfristiges Überleben über das Wohl des Ganzen.

ZEIT: Wenn sich politische Systeme verändern – verändert das dann auch die Menschen?

Meadows: Ich glaube, es ist andersherum: Die Menschen bekommen die Systeme, die sie verdienen. Wenn Leute sagen, der Kapitalismus verursacht das Problem, dann antworte ich, nein, wir verursachen es, und der Kapitalismus ist eines der Instrumente, mit denen wir das machen.

ZEIT: Da Sie nicht mehr über die Grenzen des Wachstums reden wollen, Ihre Neugier aber ungebrochen scheint – womit beschäftigen Sie sich?

Meadows: Mich interessiert die Frage der Resilienz. Wie verändert man ein System, egal ob Ihre Familie oder eine Region, damit es mit unerwarteten Schocks fertigwird? Die vergangenen 20 Jahre haben da schon viele Veränderungen gebracht – mehr als das ganze Jahrhundert zuvor. Aber die nächsten 20 Jahre werden von noch mehr ökologischem, sozialem, politischem und wirtschaftlichem Wandel geprägt sein. Da ist die Frage wichtig, welche grundlegenden Ziele wir haben und wie wir sie unter Schockeinwirkung einhalten.

ZEIT: Gerade reden schon alle über Resilienz.

Meadows: Ja. Psychologen. Ökonomen. Epidemiologen. Doch jede Gruppe hat eine eigene Sprache, eigene Konzepte und Ideen dafür. Und ich interessiere mich dafür, welche Grundlagen sie gemeinsam haben. Wie schafft man eine Art Checkliste dafür, was zu tun ist?

ZEIT: Und – schon irgendwelche Ideen?

Meadows: Ein Weg ist es, die Puffer zu vergrößern. Also vor allem die Vorräte. Wie bei den riesigen Gastanks, die gerade in Deutschland eine große Rolle spielen. Oder bei Lebensmitteln zu Hause.

ZEIT: Wäre ein wichtiger Puffer gegen soziale Unruhen und wirtschaftlichen Niedergang nicht auch, weniger abhängig von Wachstum zu sein?

Meadows: Absolut.

ZEIT: Und wie kommt man dahin?

Meadows: Geben Sie mir ein konkretes System.

ZEIT: Deutschland.

Meadows: Fragen Sie die Menschen in einer Umfrage, was ihnen am wichtigsten ist. Sechs Wörter, mehr nicht. Was werden sie sagen? Gesundheit. Liebe. Religion und so weiter. Dann kriegen Sie eine Liste. Und Sie entwickeln die Strukturen, um zu messen, wie es den Leuten in diesen Kategorien wirklich geht. So erhalten Sie ein Gegengewicht zum täglichen Aktienreport oder zum Drang, mehr und mehr zu konsumieren. Wichtig wäre es auch, sich Ihr Land mit Nullwachstum vorzustellen, aber ohne hohe Arbeitslosigkeit oder Sozialstreiks. Es ist absolut möglich, sich Deutschland auch dann als attraktiven Ort zu denken. Man muss das nur wollen und Zeit dafür investieren.

ZEIT: Ihre konstruktive Antwort zeigt doch, dass Sie immer noch diese langfristige Perspektive verfolgen – und Hoffnung haben, dass die Menschen sie irgendwann teilen.

Meadows: Ich bin Wissenschaftler und schaue mir die Beweislage an. Die meisten Menschen gehen aber anders vor. Sie wissen, was sie glauben wollen, und suchen dann nach Beweisen dafür. Ich sehe daher nicht, wie die Gesellschaften langfristig denken und konstruktiv handeln sollen.

ZEIT: So können Sie nach 50 Jahren nicht aufhören. Wir brauchen ein hoffnungsvolleres Ende.

Meadows: Ich verstehe Sie. Es hilft wirklich nichts, nur von Untergang zu schreiben. Wenn ich etwas Hoffnungsvolles zu sagen habe, dann dieses: An jedem Punkt hat jeder Mensch die Wahl zwischen verschiedenen Aktionen, einige machen die Situation besser, andere schlechter. Also sollte man immer versuchen, sie besser zu machen, auch wenn das noch kein Utopia erzeugt. Das heißt es doch, ein menschliches Wesen zu sein.

Interview: Uwe Jean Heuser, Aktualisiert am 12. Oktober 2022

https://www.zeit.de/2022/41/dennis-meadows-wirtschaftswachstum-klimakrise

 

Foto: Als junger Volkswirt entwarf Dennis Meadows, heute 80, mit Kollegen ein Weltmodell für die Zukunft der Erde. © Bernd Schwabe