Mensch und Mitmensch

Nachhaltigkeit heißt für uns in erster Linie, dass unser Leben gelingt und dass unsere Beziehungen gelingen – im Privatleben ebenso wie im Berufsleben.  (mehr …)

Meine Theorie der Transformation

Charly Kleissner

Meine Theorie der Transformation

Geboren am Sonntag, dem 16. Juni 1956 in Schwaz in Tirol, war Charly Kleissner in den 1980er und 1990er Jahren einer der wichtigsten Software-Pioniere im kalifornischen Silicon Valley. Als Leiter eines Teams von 700 Ingenieuren hat er unter anderem Programme für den legendären Apple-Gründer Steve Jobs entwickelt.

Anfang der 2000er Jahre ist Charly Kleissner ausgestiegen und hat seine Firmenanteile verkauft. Mitausgelöst hatte dies eine existenzielle Krise und eine darauffolgende spirituelle Entwicklung des erfolgreichen Software-Managers. Sein finanzielles Vermögen hat er fortan für sogenanntes Impact-Investment genützt, mit dem Sozial-Unternehmerinnen und -Unternehmer vorwiegend in Entwicklungsländern beim Aufbau unterstützt werden. Charly Kleissner möchte die Art, wie Kapitalismus funktioniert, von Grund auf verändern, wie er sagt. Dazu müsse es gesellschaftlich gelingen, Geld in einer verantwortlichen Weise zu nutzen.

Auf https://charlykleissner.com/ skizziert er seine Theorie der Transformation:

„Wir stehen am Anfang eines beispiellosen globalen Wandels. In den nächsten Jahren müssen wir herausfinden, wie zehn Milliarden Menschen nachhaltig und zielstrebig innerhalb der Grenzen eines Planeten mit begrenzten Ressourcen leben können. Dieser Wandel führt vom gegenwärtig nicht nachhaltigen Weg der menschlichen Evolution zu einem ganzheitlich nachhaltigen Weg, der ökologische, soziale, finanzielle und spirituelle Nachhaltigkeit einschließt.

Während dieses Übergangs werden sich alle Systeme ändern: das Bildungssystem, das Verkehrssystem, das Gesundheitssystem, regionale Systeme und – am wichtigsten – das Finanz- und Wirtschaftssystem. Der Status quo inkrementeller und linearer Ansätze für systemische Probleme wie Armut, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und Ungleichheit reicht nicht mehr lange aus; es ist jetzt an der Zeit, über den Tellerrand hinauszublicken, sich gemeinsam die Zukunft vorzustellen, die wir wollen und brauchen, und sie gemeinsam zu gestalten.

Dies erfordert ein erhöhtes und tieferes Bewusstsein und eine tiefere Wahrnehmung – da die Entwicklung der Menschheit in hohem Maße eine Widerspiegelung des Zustands des menschlichen Bewusstseins ist. Die Verantwortung, das menschliche Bewusstsein zu erhöhen, liegt ganz bei uns. Mein Ziel ist es, das menschliche Bewusstsein so zu entwickeln, dass es im Einklang mit dem Universum steht. Dies tue ich, indem ich ein spirituelles, regeneratives und freudvolles Leben führe – im Dienste anderer und in Gemeinschaft mit ihnen.“

 

Wie ein Dorfgeld eine Gemeinde vor dem Sterben bewahrt hat

WIENER ZEITUNG:

Wie ein Dorfgeld eine Gemeinde vor dem Sterben bewahrt hat

Ohne Moos nix los: Der Ort Langenegg in Vorarlberg lässt seit knapp 15 Jahren eigenes Geld drucken. Sogar aus Japan kommen Delegationen, um sich das Modell anzusehen.

Tote Hose auf dem Land. Tristesse zwischen den Ortstafeln. Kein Geschäft, kein Café, kein Garnichts. So sieht es halt aus, wenn ein Dorf stirbt. Wenn man Glück hat, gibt’s beim nächsten Kreisverkehr auf der Landstraße ein Konglomerat an Filialen von großen Supermarkt-Ketten. Und vielleicht irgendwo eine Tankstelle als letzten verbliebenen sozialen Treffpunkt.

Ist das der unaufhaltsame Lauf der Dinge? Nein. Das zeigt ein kleines Dorf in Vorarlberg. Das Geheimrezept der Gemeinde Langenegg: eigenes Geld, die Langenegger Talente.

Denn das Dorf ist eine der wenigen Gemeinden in Österreich, die über eine Regionalwährung verfügen. Die sogenannten Langenegger Talente sehen für das Euro-gewohnte Auge wie Monopoly-Geld aus. 1er-, 5er-, 10er-, 20er- und 50er-Scheine gibt es. Sie sind kürzer als Euroscheine, aber sie sind ebenfalls auf Sicherheitspapier gedruckt, und jeder Schein hat eine andere Farbe. So gibt es keine Probleme bei der Kassa, erzählt die örtliche Supermarkt-Leiterin Monika. Sie hatte am Anfang Bedenken wegen der Währung. Aber inzwischen ist sie absolut davon überzeugt. Es mache bei der Abrechnung keinen Unterschied. Geld ist Geld.

Offiziell ist eine Regionalwährung keine Konkurrenz zum Euro, sondern nur eine Komplementärwährung. Das bedeutet auch, dass sie klein bleiben muss. Der Kreis der Benutzer:innen und die lokale Verbreitung müssen überschaubar bleiben. Wien zum Beispiel wäre viel zu groß.

Big in Japan

Langenegg will aber auch nicht Stadt sein, sondern Dorf bleiben. In ruralen Kreisen ist die Gemeinde im entlegenen Bregenzerwald weltberühmt. Aus Süddeutschland, aus der Schweiz und sogar aus Japan kommen Delegationen von Bürgermeister:innen, um sich anzusehen, was die 1.100 Menschen in Langenegg besser machen als andere Dörfer.

Für Langenegg kam der Moment der Wasserscheide 2008. Da war absehbar, dass der Dorfgreissler in Pension geht. Nachfolger:in gab es keine/n. Dorfgreissler, Gasthaus, Café, Sennerei: Sie halten die Dorfgemeinschaft am Leben. Ohne die sozialen Treffpunkte stirbt ein Dorf. Der Tod von Langenegg schien unaufhaltsam. Viele Langenegger:innen pendeln zum Arbeiten ohnehin raus aus dem Ort und kommen an zahlreichen Supermärkten vorbei.

Aber Langenegg stemmte sich dagegen. In einem gemeinsamen Kraftakt entschieden sich die Bürger:innen, die Geschäfte weiterzuführen. Aber um solchen kleinen Betrieben das Überleben zu sichern, brauchte es eine Garantie: eine eigene Dorfwährung. Die Langenegger Talente sind ein „Anreiz”, sagt der Unternehmensberater Gernot Jochum-Müller zur WZ, der die Gemeinde damals bei der Umstellung betreut hat und dessen Genossenschaft Allmenda auch die Technik bereitstellt.

Abos und Förderungen

Über ein Abo-System tauschen seit 2009 rund 15 bis 20 Prozent der 450 Haushalte in Langenegg ihr Geld in die lokale Währung um. Das sind zumeist Beträge zwischen 100 und 500 Euro, monatlich werden so 11.000 Euro in die bunten Scheine gesteckt.

Die Gemeinde vergibt ihre Förderungen nur in der Dorfwährung: Fußballverein, Blasmusik und Feuerwehr können mit dem Geld nur in Langenegg bezahlen – damit unterstützen sie die lokale Wirtschaft.

„Die Gemeinde kurbelt damit Kooperationen und einen Zusammenhalt an, der so sonst nicht stattfinden würde“, sagt Jochum-Müller. Volkswirtschaftlichen Berechnungen zufolge werden auf diese Art 680.000 Euro im Jahr in dieser kleinen Gemeinde gebunden.

Um eine zusätzliche Motivation zum Wechseln in die lokale Währung zu schaffen, vergibt die Gemeinde einen Rabatt von drei Prozent: Für 100 Talente zahlt man 97 Euro.

Kreislauf statt Einbahnstraße

Subventionen sind normal. In Vorarlberg sind 60 Prozent der kleinen Nahversorger in den Gemeinden in irgendeiner Form gestützt. Aber die normale Ausschüttung einer Förderung bleibt eine Einbahnstraße. Das Dorfgeld ist hingegen für die Zirkulation gedacht. Das macht den großen Unterschied zu Gutscheinen oder Stadtkarten aus: Auch hier wird Geld oder Währung zwar im Shop oder in der Stadt gebunden. Aber nach einem einmaligen Umsatz ist der Effekt wieder verschwunden.

Die Hälfte der Arbeit ist die Überzeugungsarbeit

„Es braucht gerade am Anfang eine große Portion Mut und Überzeugungsarbeit. Weil man alle beteiligten Betriebe gewinnen muss“, erzählt Jochum-Müller. „Der Betrieb muss auch einsehen, dass nicht nur das eigene Wohlergehen wichtig ist. Das System funktioniert nur, wenn es allen gut geht.” Jochum-Müller und seine Genossenschaft haben Erfahrung mit Regionalwährungen. Sie haben auch den V-Taler in Vorarlberg und den oberösterreichischen Ennstaler eingeführt. Ehrenamtlich, denn sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt ein Stück gerechter zu machen.

Überproportional viel gemeinschaftliches Tun

In Langenegg funktioniert das Anreizsystem. Das Dorf verfügt inzwischen über 21 Vereine und etwa acht weitere Initiativen, erzählt Langeneggs Bürgermeister Thomas Konrad. 40.000 Euro werden in Form von Langenegger Talenten jährlich in die Vereine gesteckt.

Konrad ist, wie der Rest der Gemeindevertretung, parteifrei. Das hat in Langenegg Tradition, macht den Ort aber zu einem Unikum in der Region. Das Parteifreie macht es leichter, sich in der Sache zu einigen, meint Konrad.

Ähnlich Denkende werden angezogen

Langenegg hat dank der Wiederbelebung eine Strahlkraft entwickelt – der Ort wächst und zieht Menschen an, die ihrerseits wiederum Lust daran haben, die Ärmel hochzukrempeln.

„Vielen Neuzugezogenen muss man den Gemeinschaftsgedanken nicht mehr erklären, weil die ihn von Haus aus suchen“, sagt Konrad, der selbst aus Dornbirn hergezogen ist. „Früher hat man sich aufs Land verzogen, um auch anonym zu sein. Aber heute will man wo sein, wo Gemeinschaft ist, wo Kinder gut aufwachsen können.“

Die Herausforderungen sind nun, mit der Attraktivität zurande zu kommen. Zwischen 50 und 100 Menschen kommen pro Jahr in Langenegg dazu. Mit dem Raum muss sorgsam umgegangen werden. Feriensiedlungen existieren nicht, obwohl der Bregenzerwald eine Tourismus-Region ist. Die, die hier wohnen, engagieren sich, die Zukunft fest im Blick.

Dörfer sterben. Langenegg lebt.

Konstanze Walther, WIENER ZEITUNG, 3.5.2024

https://www.wienerzeitung.at/a/ein-dorfgeld-gegen-das-dorfsterben

Daten und Fakten

  • Viele versuchen, in einer globalisierten Welt Geld und Produktion vor Ort zu halten. Den wenigsten gelingt es längerfristig. Das Modell Regionalgeld kommt oft aus der Anfangsphase nicht heraus, lieber wird über Förderungen oder Gutscheine operiert. Ein Dorfgeld, das seit knapp 15 Jahren funktioniert, ist selten.
  • Dass die kleine Gemeinde Langenegg besonders ehrgeizig ist, hat sie vor 100 Jahren bereits gezeigt. Die Genese Langeneggs klingt wie eine Geschichte aus einem Asterix-Band: Früher gab es nämlich Ober- und Unterlangenegg. Ein wohlhabender Bauer hatte seinen Bauernhof genau an der Grenze der beiden Dörfer und musste Abgaben an beide Dörfer zahlen. In seinem Testament erklärte der kinderlose Landwirt: Er würde Hab und Gut der Gemeinde vererben, wenn sie sich zusammenschlössen und auch soziale Aspekte berücksichtigen würden. Binnen eines Jahres schafften die Dörfer den Zusammenschluss.
  • Die Langenegger Talente werden auf Sicherheitspapier alle drei Jahre neu aufgelegt und repräsentieren auf den Bildern immer ein Thema, das für das Dorf wichtig ist. Derzeit sind es Wahrzeichen des Ortes. Zuvor wurden Vereinssujets abgebildet.
  • Über ein Abo-System können Euros gegen Talente getauscht werden. Das macht die Talente zu einer Euro-gedeckten Regionalwährung.
  • Die zweite große Komplementärwährung in Vorarlberg, der V-Taler, ist eine Leistungs-gedeckte Währung (Arbeitseinheit wird mit V-Taler gegengerechnet).
  • Weitere aktive Euro-gedeckte Regionalwährungen (Umtausch in Euro) in Österreich:
  • Ennstaler
  • Styrrion
  • Neulengbacher 10er

 

Gesprächspartner

 

Unser Fiebertraum vom Wachstum

Gespräch in der Zeitschrift DER PRAGMATICUS mit Univ.-Prof. Mag. Dr. Dr. Martin Grassberger:

Unser Fiebertraum vom Wachstum

Dieses Effizienz- und Wachstumsparadigma ist am Ende, argumentiert der Mediziner Martin Grassberger und schlägt eine Alternative vor.

Der Mediziner Martin Grassberger sagt genau die Dinge, die derzeit kaum jemand hören möchte. Etwa, dass der Kollaps unserer Lebensgrundlagen längst begonnen hat, und dass noch mehr Technik und noch mehr Effizienz die Probleme unserer Zeit nicht lösen. Und das ist nicht einmal schlimm. Er hat nämlich einen anderen Vorschlag: Regeneration.

Was beschäftigt Sie gerade?

Martin Grassberger: Ich habe gerade ein neues Buch fertiggestellt, und mich beschäftigt aktuell die Frage, wie die Inhalte aufgenommen werden.

Um was geht es in dem Buch?

Es heißt Regenerativ und ist ein eher unkonventioneller Versuch, die Ursachen der Metakrise oder Polykrise zu erklären, und auch, wie wir wieder aus diesen verschachtelten Krisen oder, eher, aus der übergeordneten Metakrise herauskommen.

Worin besteht aus Ihrer Sicht die Metakrise?

Es existiert die These, dass all die vielen unterschiedlichen Krisen – die Klimakrise, der Arten- und Biodiversitätsverlust, Migration, Demokratiemüdigkeit, die geopolitischen Krisen – letztlich eine Krise der menschlichen Kognition sind, eine Krise unserer Wahrnehmung und unseres Selbstverständnisses.

Das klingt so, als müssten wir die Dinge nur anders betrachten, dann lösten sich die Probleme, die wir haben, von selbst.

In gewisser Weise stimmt das. Nur müssen wir komplett umdenken und verstehen, dass wir Teil komplexer Systeme sind – unser Körper ist ein komplexes System, die Gesellschaften, das Klima, die Umwelt, das globale Wirtschaftssystem. In diesen Systemen kommt es nicht so sehr auf die einzelnen Elemente an, sondern auf die Vielzahl der Verbindungen zwischen ihnen. Der Mensch versucht nun permanent, Probleme mit einfachem linearem Denken zu lösen. Das kann jetzt nicht mehr gelingen. Der Denkfehler, den der Mensch macht, ist zu glauben, man könne komplexe Systeme kontrollieren oder gar dominieren. Das kann bzw. sollte man nicht.

Nein?

Nein. Diese vermeintliche Kontrolle, das versuche ich im Buch zu erklären, ist eine Illusion, die daher rührt, dass wir unsere gesamte Wahrnehmung und die Deutung der Welt der linken Gehirnhälfte überlassen haben.

Das müssen Sie genauer erklären, bitte.

Wir haben zwei Hirnhemisphären und früher nahm man an, die linke Gehirnhälfte steuere alles Analytische und Pragmatische, rechts sei die Kreativität zuhause. Das stimmt erwiesenermaßen nicht. Was aber stimmt, ist, dass unsere Gehirnhälften die Welt unterschiedlich wahrnehmen. Die linke Gehirnhälfte neigt zum Kategorisieren und Abstrahieren, die rechte bettet diese Wahrnehmungen in ein größeres Ganzes ein und verbindet die Information mit Gefühl, mit Erfahrung und „sieht“ auch die Qualitäten und Möglichkeiten. Sie ist gewissermaßen die weisere von den beiden Hirnhälften. Wir brauchen beide Gehirnhälften, um zu überleben, aber in der Welt, die wir geschaffen haben, dominiert die linke Gehirnhälfte. Das heißt, wir nehmen unsere gesamte Welt nur noch reduktionistisch war, weil wir die Komplexität der Biosphäre, deren Teil wir sind, auf Zahlen reduzieren: das Bruttoinlandsprodukt, die CO2-Konzentration, Temperatur, Körpergewicht etc. etc. 

 

Warum ist das ein Problem? Die Zahlen leisten doch gute Dienste.

Das Problem ist, dass die Zahlen nicht die ganze Realität abbilden. Es sind sehr nützliche Abstraktionen, aber nicht mehr. Die Erkenntnisse, die wir daraus gewinnen können, sind begrenzt. Trotzdem ist die Abstraktion von der lebendigen Welt so dominant, dass sie verhindert, dass wir die Probleme, die wir haben, in ihrer Ganzheitlichkeit sehen und lösen können. In meinem Fachgebiet, der Humanökologie, wo es darum geht, wie der Mensch seine sogenannte Umwelt verändert und wie diese wieder auf ihn zurückwirkt, arbeite ich auch mit diesen Abstraktionen. In meinen zwei bisherigen Büchern lege ich wissenschaftlich korrekt, mit vielen Informationen und Statistiken untermauert dar, wie sich ökologische Umweltveränderungen auswirken, auf die Landwirtschaft, die Ernährung, die Ressourcen usw. und zeige, dass unsere Lebensgrundlagen auf dem Spiel stehen. Es ist alles völlig korrekt – nur scheint es niemanden zu tangieren. Das liegt daran, dass wir die meisten Entscheidungen emotional treffen.

Aber diese Emotionen haben keine Resonanz, meinen Sie?

Ja. Wir glauben ja fest daran, dass wir die ökologischen Verwerfungen durch gute Wissenschaft lösen können, oder? Wir denken, dass im technischen Fortschritt immer die Lösung enthalten ist. Wenn man sich nur ein bisschen mit Systemwissenschaft beschäftigt, weiß man, dass eigentlich genau das Gegenteil der Fall ist, denn unsere Wirtschaftssysteme und unser Fortschritt haben uns erst in diese Situation gebracht, in der wir jetzt sind. Es ist eine auf falschen Grundannahmen basierende Idee, dass ewiges Wachstum wirtschaftlich möglich wäre. Dieser Trugschluss ist auch ein Ergebnis unserer kulturellen Entwicklung und unserer Kognition. Wir hoffen immer, dass technische Lösungen uns einer guten Zukunft näher bringen, dabei entfernen wir uns immer weiter von dem, was wir sind, nämlich Tiere in einer komplexen Biosphäre.

Die meisten Menschen wollen das ja genau nicht sein, ein Tier in der Biosphäre. Das macht die Idee von Fortschritt und Wachstum wahrscheinlich attraktiv.

Es geht nicht um eine Rückabwicklung von zivilisatorischen Errungenschaften. Der Mensch hat durch Zufall ein recht komplexes Gehirn entwickelt, das wunderbare Dinge vollbringen kann, besonders dann, wenn auch die rechte Hemisphäre mitspielen darf. Das sehen wir immer zu Beginn von Zivilisationen: Kunst, Kultur und Wissenschaft explodieren förmlich, denken Sie etwa an das frühe Griechenland oder das frühe Römische Reich. Der Mensch hinterfragt sich selbst, ist selbstreflexiv. Mit der Fortdauer einer Zivilisation beginnt aber die Bürokratie, die linkshemisphärische Wahrnehmung, allmählich zu dominieren. Man versucht, alles zu kontrollieren, zu kategorisieren, zu verwalten, und immer dann, wenn diese Verwaltung auf einem Höhepunkt ist, ist eine Zivilisation an ihrem Ende angelangt. Es könnte durchaus sein, dass wir jetzt in so einer sehr späten zivilisatorischen Phase leben, in der alles kontrolliert und überbürokratisiert ist. 

Dies klingt nach einem bevorstehenden zivilisatorischen Zusammenbruch, der für viele wohl eine denkunmögliche Vorstellung ist. 

Ich glaube nicht, dass die Menschheit aufhören wird zu existieren, sondern es werden die Dinge, die wir jetzt in unserer Zivilisation und Kultur als selbstverständlich sehen, für längere Zeit oder vielleicht sogar für immer einfach nicht mehr zur Verfügung stehen. Wir sind dabei, die komplexe Lebenswelt, deren Teil wir sind, zu zerstören. Wir haben zwei Drittel der wildlebenden Tiere verloren, dramatische Rückgänge bei den Insekten, einen unglaublichen Verlust an Arten und an fruchtbarem Boden. Wir verbrauchen immer mehr Energie, obwohl wir immer effizienter werden, weil in allen Produkten, von denen wir immer mehr und mehr konsumieren, fossile Energie steckt. Die können wir aus ökologischen und aus Ressourcengründen auch nicht durch erneuerbare Energien ersetzen. Das stellt unsere Wirtschaft in Frage, denn die beruht auf billiger, stets verfügbarer Energie. Egal wo man politisch steht, muss man begreifen, dass dieses Modell von Wachstum und Konsum an einer ultimativen Grenze angekommen ist.

 

War diese negative Entwicklung, die Sie beschreiben, eine zwangsläufige Folge? Wäre es auch denkbar gewesen, den Fortschritt ohne die Zerstörung zu haben?   

Aus der Ökologie kennt man die sogenannten adaptiven Zyklen. Alle Ökosysteme haben am Anfang Phasen raschen Wachstums, das dann abflacht und in eine Erhaltungsphase übergeht, danach folgt eine Freisetzungsphase, in der die gespeicherte Energie wieder freigesetzt wird. Pflanzen sterben ab, werden zersetzt, es entstehen wieder neue Pflanzen, der Kreislauf beginnt von Neuem. Das ist die Kurve allen Lebens und auch allen menschlichen Lebens und der menschlichen Kulturen und Zivilisationen. Wenn wir in dem Bild bleiben, dann geht es jetzt darum, dass wir unserer Freisetzungsphase entgegenblicken. Der Ökonom Joseph Schumpeter hat diesen Prozess kreative Zerstörung genannt: Die Zerstörung ist dazu da, ein System nicht erstarren zu lassen. Im Moment arbeiten wir aber genau der Erstarrung zu, indem wir alles daransetzen, die Erhaltungsphase durch Subventionen und weitere Effizienzsteigerung zu verlängern. Man nennt das auch Rigiditätsfalle. Das ist aus vielen Gesichtspunkten ein Problem, weil Effizienzsteigerung heißt, dass man aus einem System die Redundanz entfernt. Zum Beispiel die Landwirtschaft: Wenn viele kleine Betriebe unterschiedliche Lebensmittel produzieren, dann ist das nicht sehr effizient, aber effektiv, weil die Redundanzen – die vielen Betriebe –dafür sorgen, dass das System stabil und resilient ist. Es bleibt erhalten, auch wenn ein Element ausfällt. Überlässt man die Lebensmittelproduktion dem globalen Warenhandel mit einförmigen Produkten und wenigen Playern ist das zwar effizient, aber anfällig für Störungen bis hin zum kompletten Zusammenbruch.

Was hindert Gesellschaften heute daran, es anders zu machen?

Das Erzeugen von Redundanzen im System, damit es resilient und stabil ist, kostet Geld. Alles, was auf Kosten der Effizienz geht, kostet Geld, und die Kosten sind ein Hindernis in einer Welt, die immer weiteres Wachstum anstrebt. Sobald Kosten entstehen, bremsen diese das Wachstum. Wenn das Wachstum aber der Fetisch ist, ist man permanent gezwungen, die Kosten zu senken oder am besten zu eliminieren. Endloses Wachstum gibt es in der Natur und in der Wirtschaft aber nicht. Endloses Wachstum ist ein Fiebertraum: Wenn ich von einem Konto nur abhebe, ohne einzuzahlen, wird bald nichts mehr da sein; ein Boden, der auf Ertragssteigerung bewirtschaftet wird, wird irgendwann unfruchtbar sein. 

Was ist die Alternative zum Wachstum?

Es ist das, was ich regenerativ nenne. Regeneration ist mehr als Nachhaltigkeit. Es meint, einen Zustand nicht nur zu erhalten, sondern zu verbessern, also Bedingungen zu schaffen, damit sich Systeme eigenständig optimal weiterentwickeln bzw. regenerieren können. Für die Landwirtschaft heißt das zum Beispiel, dieses Wunder Bodenleben zu fördern, damit es Tiere und Menschen gesund ernähren kann. Regenerative Wirtschaft und regenerativer Kapitalismus heißt, dass wir immer wieder auch einzahlen müssen, damit das System langfristig funktionieren kann. Das setzt eine große psychologische Transformation voraus, nämlich, sich wieder als Teil der Natur zu sehen. Eben nicht effizient sein zu wollen, sondern effektiv. Nicht nur weniger Schaden anrichten zu wollen, sondern aktiv etwas Gutes bewirken zu wollen. Der Mensch hat das Potenzial dazu. Wenn diese Transformation gelingt, können wir auch die Krisen meistern.

Wenn man einen Blick in die Politik wirft, dann bekommt man den Eindruck, dass selbst diejenigen, die ganz unmittelbar davon profitieren würden, dieses Potenzial nicht realisieren wollen. Landwirte sind für Agrardiesel-Subventionen auf die Straße gegangen. Warum ist das so?  

Wenn wir die enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft betrachten, sehen wir, dass es eigentlich nur ganz wenige sind, die von dem derzeitigen System profitieren. Diese wenigen haben eine unheimliche Macht, auch medial. In einer Welt, die kommunikativ so eng vernetzt ist, die ständig eine neue Erregung braucht, und die noch dazu von Desinformation geradezu geflutet wird, müssen wir uns fragen, welche Realität die Bilder, die wir zum Beispiel von den Bauernprotesten sehen, eigentlich abbilden. Die globale Landwirtschaft ist so heterogen und besteht aus so vielen unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten. Es gibt darunter sehr viele, die verstanden haben, dass sie das Leben fördern müssen, wenn sie ihren Betrieb an die kommenden Generationen weitergeben wollen. Das ist aber medial weit weniger interessant, weil es kein Erregungspotenzial birgt. Hinzu kommt, dass unser politisches System eine Abkehr von dem Effizienz- und Wachstumsparadigma nicht zulässt. Welcher Politiker würde sagen, dass wir eine Rückwärtsschleife einbauen müssen?

Sie sagten zu Beginn, dass Sie sich fragen, wie Ihr Buch inhaltlich aufgenommen wird. Welche Erwartungen haben Sie?

Mir ist schon im Vorfeld vorgeworfen worden, dass mein Buch fortschrittsfeindlich oder wirtschaftsfeindlich sei. Dahinter steckt die Idee, dass es Wirtschaft nur mit Wachstum geben kann und dass Fortschritt immer ein technischer Fortschritt ist. Ich will Alternativen zeigen:  Es kann auch ein unheimlicher Fortschritt sein, von manchen Dingen und Vorstellungen loszulassen. Denn: Was braucht der Mensch? Soziale Beziehungen, genug Nahrung, Sicherheit, Wärme und auch schöne Momente, Kunst und Kultur, Spiritualität. Mein Buch ist ein Denkangebot. 

Ein Denkangebot, das vielen vermutlich Angst macht: Kunst, Kultur und Spiritualität werden ja gemeinhin als Luxus gesehen, zuerst muss die Wirtschaft funktionieren. Für viele ist das Denkangebot vermutlich eine Drohung mit Verlust.

Ja, das ist das, was wir täglich ausgerichtet bekommen. Es löst eine wahrgenommene oder auch subtile Angstreaktion aus, die keine guten Zukunftsentscheidungen zulässt: Im Wachstumsnarrativ ist Wohlergehen untrennbar mit Wirtschaftswachstum und Konsum verknüpft. Rohstoffe extrahieren, verarbeiten und entsorgen – das kann langfristig nicht funktionieren.

Also Verzicht?

Verzicht ist auch ein so aufgeladenes Wort ebenso wie Verbot. Ich denke, das sind falsche Entgegensetzungen und zum Teil auch einfach Propaganda, wie wir sie auch bei den Politikprozessen wie dem Nature Restoration Law erlebt haben: Es wird mit Angst und Drohung gearbeitet. Weil man keine Renaturierung will, die ja im Übrigen in der ausverhandelten Form auch vollkommen unzureichend ist, droht man, die Ernährungssicherheit stünde auf dem Spiel, man könne sich Naturschutz nicht „leisten“. Das ist aber ein wahnhaftes Festhalten an Vorstellungen, die in der Realität überhaupt keinen Anker haben, da wir Teil der Natur sind und ohne sie nicht überleben können. 

Damit sind wir wieder bei der Frage, wie man da rauskommt.

Ich habe mich lange mit dem Werk von Joseph Campbell beschäftigt, einem Anthropologen. Er hat als einer der ersten das Muster der Heldenreise beschrieben, das Teil eines jeden Mythos, einer jeden Erzählung des Menschen bis hin zum Hollywood-Film ist: Ein Held gerät in eine Krise, muss Prüfungen bestehen, droht zu scheitern, was ihn schließlich zu einem Paradigmenwechsel bringt, der schließlich eine gedeihliche Zukunft für ihn und seine Umwelt ermöglicht. Mir scheint, dass wir als Menschen nun diese schmerzhafte Heldenreise antreten werden müssen. Wir befinden uns in einem Übergangszustand, wo das alte ist noch nicht ganz weg und das neue ist noch nicht ganz da ist. Antonio Gramsci hat dies die „Zeit der Monster“ genannt. Es treten Zeremonienmeister auf den Plan, die einfache Antworten verkünden. Deswegen ist es so wichtig, in dieser Übergangszeit eine Orientierung zu haben, und ich denke, diese Orientierung könnte jene am Regenerativ sein, an der Förderung von allen Formen des lebendigen Daseins.

Der Pragmaticus | Über mich: https://www.derpragmaticus.com/ueber-mich

Zum Gespräch: https://www.derpragmaticus.com/r/wachstum?fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTEAAR0R6HUT1w7ZX4dRcYqOusrvP_vdvZjtPEVgef0xwG_RNotFNXPHLkX8aFw_aem_AThLzKy4QJFqA5m_w4rJiG-ZOXY45oKq7ULSJ9bNoTvaW2kcB3Aakbf_om1PfkVKtOTE24LEyaa6OTcanFEYhhSe

Über diese Serie:

„Was beschäftigt Sie gerade?“ ist eine Interviewreihe des Pragmaticus, in der unsere Expertinnen und Experten von ihrer Forschung und allem, was sie beschäftigt, erzählen. Die Themen und der Umfang des Gesprächs sind offen.

Über Martin Grassberger:

Martin Grassberger ist Mediziner und Biologe mit Diplomen in Umweltmedizin und Ernährungsmedizin. Er forscht und lehrt als Professor für Gerichtsmedizin an der Sigmund Freud Universität Wien. Er ist der Wissenschaftliche Leiter der Österreichischen Akademie für Misshandlungsmedizin und ausgebildeter landwirtschaftlicher Facharbeiter. Grassberger hat mehrere Bücher über den Zusammenhang von Ökologie und Gesundheit geschrieben. Sein Buch Das leise Sterben über das Mikrobiom des Bodens und die Landwirtschaft ist ein Bestseller. Zuletzt erschien Das unsichtbare Netz des Lebens und im April 2024 Regenerativ. Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter. Für den Pragmaticus schrieb Grassberger einen Beitrag über Antibiotika und Pestizide.
 Foto: Martin Grassberger. © privat

ANHANG:

Online-Umfrage am 7.4.2024

7 BesucherInnen haben sich an der Online-Umfrage beteiligt. Mag die Beteiligung bescheiden erscheinen, sind die Rückmeldungen für uns trotzdem sehr aufschlussreich. Das obige Interview in DER PRAGMATICUS ist der Ersatz für einzelne Antworten von Dr. Martin Grassberger auf die 3. Frage.  

Video-Aufzeichnung vom 7.4.2024 Ungeschnittene Rohfassung des Gesprächs von Dorli Muhr mit Martin Grassberger – Gesamtdauer 1 Stunde 36 Minuten.

KI und Führung

Prof. Dr. Anabel Ternès von Hattburg:

KI und Führung

„KI ist wahrscheinlich DAS BESTE oder DAS SCHLIMMSTE, was der Menschheit passieren kann“, wird Stephen Hawking zitiert. KI wird das Privatleben, die gesamte Gesellschaft, Politik und Wirtschaft grundlegend verändern. Mehr als wir uns das heute vorstellen können. Club-Mitglied Anabel Ternès von Hattburg hat die Fähigkeit, komplexe Themen – rund um Nachhaltigkeit im weitesten Sinn – in einfache Worte zu kleiden. Wie hier zum Thema KI:

„KI ist wirklich cool.“ Der Geschäftsführer einer Einheit eines großen Konzerns lachte. „Damit sparen wir mindestens eine Mitarbeiterin im Social Media ein. Wir müssen nichts mehr selbst schreiben. Das macht jetzt alles die Technik.“

Ich schaute erstaunt hoch. Aber was ist mit Authentizität? „Na ja“, er lachte, „ist ja von uns in Auftrag gegeben, sozusagen, da stehen wir ja hinter.“ Aber was ist mit O-Tönen, wahren Geschichten, genau so passierten Inhalten, was ist mit der emotionalen Energie, die bei maschinell erstellten Texten fehlt? Er schaute mich erstaunt an. „Darüber hab ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Klar, die Authentizität geht verloren. Wir haben nur gedacht, dass das ja schneller geht und günstiger ist. –  Meinst Du, die FollowerInnen von uns merken den Unterschied? Meinst Du nicht, die lassen sich auch vom maschinellen Text beeindrucken? Die Texte sind doch mittlerweile so gut. Ich hab letztens mal einfach so ein paar Worte eingegeben und da kam ein richtig cooler Liebesbrief an meine Frau raus. So etwas Tolles könnte ich nie schreiben. Und auch letztens für eine Grabrede. Hab einfach ein paar Worte eingegeben und schon kam ein besserer Text, als ich ihn jemals hätte selbst schreiben können. Findest Du das doof?“

Ich überlege. Nun ja, wenn Du einen Text als von Dir geschrieben ausgibst, dann stimmt es ja nicht, wenn Du ihn hast schreiben lassen. Auch, wenn das keiner kontrollieren kann. Aber geht es darum, dass wir das kontrollieren müssten?

Die Frage der Ethik bei KI beginnt früh. Die Frage der Verwendbarkeit von KI auch. KI ist unglaublich verlockend. Mitarbeitende aufgrund ihres Schreibverhaltens, wie elaborierter Sprachcode, Schnelligkeit des Schreibens, Menge an Text, Häufigkeit wiederholter Worte, meistverwendete Worte etc. per KI einzuschätzen und das als Grundlage für die weitere Unterstützung im Unternehmen im Hinblick auf die Karriere zu nehmen – solche Versuche gibt es schon seit Jahren.

Was klar ist: KI und Leadership, das eröffnet ganz viele Chancen. Sich darüber auszutauschen – und damit über die Leadership-Skills der Zukunft, darauf freue ich mich: Schreiben Sie an JA@clubofrome-carnuntum.at – die Antworten stehen dann wieder hier, in der Club-Homepage.

Anabel Ternès von Hattburg, im Jänner 2024

https://anabelternes.de/vita/

 

Prof. Dr. Anabel Ternès ist auch Keynote-Speakerin, Fach-Moderatorin und Impulsgeberin zu Themen rund um Zukunft, Nachhaltigkeit und Digitalisierung: https://anabelternes.de/keynotes/

 

„Unsere Demokratien sind am Verrotten“

Dr. Philipp Blom:

„Unsere Demokratien sind am Verrotten“

Philipp Blom, 2021, Wien, Copyright www.peterrigaud.com

Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Zu den bekanntesten Büchern des preisgekrönten Bestsellerautors zählen „Der taumelnde Kontinent“ (2009), „Böse Philosophen“ (2011) und „Was auf dem Spiel steht“ (2017). Im Sommer 2023 ist sein neues Werk „Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung“ erschienen.

DIE FURCHE: Herr Blom, in Ihrem neuen Buch analysieren Sie die Gegenwart als „Zeit der Verdunkelung“. Was hat Sie so düster gestimmt?

Philipp Blom: „Verdunkelung“ ist eine Übersetzung aus dem Englischen, der Gegensatz von „Enlightenment“, und eine wirklich schöne Wortschöpfung. Ich mache mich stark dafür, dass die Verdunkelung heute aus grell beleuchteten Wänden besteht. Klingt zunächst absurd, aber vor lauter Leuchteffekten sieht man vieles nicht mehr. Früher war Aufklärung der Kampf für Gleichheit und Rationalität, gegen Kirche und Adel. Die historische Aufklärung ist freilich kompromittiert durch den Imperialismus und die Sklaverei, die sie zum Teil unterstützt hat. Warum aber Verdunkelung? Beim Schreiben kam mir ein Bild in den Kopf. Ich denke gern mit Bildern, und genau dieses schien die Frage zu beantworten: ein Supermarkt.

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ChatGPT ist erst der Anfang vom Einsatz der KI

„ChatGPT ist erst der Anfang vom Einsatz der KI“

Digitalexperte Sascha Lobo verrät, worauf wir uns in der Zukunft gefasst machen können und warum wir mehr vertrauen sollten.

„Kärntner Wirtschaft“: Was werden die größten digitalen Trends sein, die Wirtschaft und Gesellschaft in den nächsten Jahren beeinflussen?

Sascha Lobo: Erstens die generative Künstliche Intelligenz (KI), wie sie mit ChatGPT bekannt geworden ist. Also KI, die Daten nicht nur klassifiziert, sondern auch generiert. Dabei war ChatGPT aber erst der Weckruf. Und zweitens eine neue Art der Kommunikation aufgrund dieser neuen Technologien. Chatbots kennt man ja bereits aus dem Service, hier sprechen wir aber von einer völlig neuen Qualität. Es wird nicht mehr nachvollziehbar sein, ob man mit einem Menschen oder einer Maschine kommuniziert. 

Welche Rolle spielt KI künftig in den Unternehmen? 
Sie wird sicherlich vieles auf den Kopf stellen. Ein Bereich, der wohl die meisten Betriebe betreffen wird, ist zum Beispiel der Microsoft-Copilot. Hier werden Microsoft-Anwendungen mit KI verknüpft. Dadurch wird es möglich, dem System etwa den Befehl zu geben, aus einer Excel-Liste eine Präsentation mit zehn Folien zu erstellen und alles von meinem Arbeitskollegen Tom einzubauen, was er mir diese Woche in Outlook geschickt hat. Das wird unsere Arbeitsprozesse nachhaltig verändern, auch wenn der Copilot in Europa noch nicht erlaubt ist.

Welche Anwendung sollte man noch im Auge behalten?
AutoGPT – eine Weiterentwicklung von ChatGPT, die mit dem Internet verbunden ist. Es arbeitet Aufgaben automatisiert ab, verteilt Subaufgaben an andere KI-Programme und erreicht somit eine neue Stufe autonomer KI. Ich könnte zum Beispiel die Suchanfrage nach Schuhen einer bestimmten Marke in einer bestimmten Farbe und Größe zu einem Wunschpreis stellen und würde dann in Echtzeit ein Ergebnis bekommen. Das ist ein radikaler Wandel, bei dem wir auch Unternehmensprozesse neu denken müssen.

Wie können kleine Betriebe von der Digitalisierung profitieren?
Sie profitieren vom Manufakturcharakter, der sich vor allem im Sinne des Marketings in den sozialen Medien sehr gut darstellen lässt. Ein Tischler, der seine Leidenschaft für das Handwerk inszenieren möchte, kann dazu Instagram nutzen. Bei den Inhalten kommt es darauf an, dass sie effektiv, effizient, innovativ oder einfach humorvoll sind. Auch der Verkauf der Produkte kann ja unabhängig von der Betriebsgröße in einem Online-Shop erfolgen und viele Backoffice-Aufgaben laufen ohnehin schon automatisiert. 

Wie wichtig sind soziale Medien generell in der Unternehmenskommunikation?
Das hängt natürlich von der Branche ab und reicht von null bis 100. Das Wichtigste ist aber, immer ein Ziel für seine Botschaft zu haben, und das muss nicht immer der Kauf sein. Oft geht es darum, Multi­plikatoren zu gewinnen oder einfach nur zu unterhalten. TikTok hat den besten Empfehlungsalgorithmus überhaupt und wird daher auch von den über 30-Jährigen als Wissenskanal genutzt. Rechtsanwälte erklären etwa auf unterhaltsame Art und Weise komplexe Sachverhalte – das funktioniert.

Elon Musk lässt Chips ins menschliche Hirn implantieren, Mark Zuckerberg träumt von einem Metaversum – Wie sieht die digitale Zukunft aus?
Wir machen auf diesen Gebieten aktuell Quantensprünge nach vorne, eine Prognose ist daher schwierig. Ich denke, beides ist möglich und wird wohl verschmelzen, auch wenn ich mir keinen Chip einsetzen lassen würde – das liegt aber an Elon Musk und nicht an dem Chip. 

Ist Österreich für die digitale Transformation gerüstet?
In Österreich ist es ähnlich wie in Deutschland, wir sind führend beim unausgeschöpften Potenzial. Die Skepsis vor diesen Entwicklungen ist enorm groß und das hemmt den Fortschritt. Das kann man sich nur leisten, solange es noch eine tragfähige Wirtschaft gibt. Der Druck wird aber global steigen und es ist besser den Wandel hin zur KI-Transformation aus eigener Kraft zu gestalten, anstatt geschwächt Trends zu folgen.

Sascha Lobo (48) ist Journalist, Blogger, Digitalisierungs- und KI-Experte. Seit Jänner 2011 schreibt er die wöchentliche Kolumne „Mensch-Maschine“ auf Spiegel Online. In seinem neuen Buch „Die große Vertrauenskrise“ analysiert er den Vertrauensverlust in Wissenschaft, Information, Politik und Demokratie. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Berlin.

 

Von Claudia Blasi, Redakteurin „Kärntner Wirtschaft“, 2. 11. 2023

https://www.wko.at/ktn/news/-chatgpt-ist-erst-der-anfang-vom-einsatz-der-ki-

Nachhaltigkeit beginnt bei mir

Unser jüngstes Club-Mitglied kommt aus… Berlin! Prof. Dr. Anabel Ternès ist Direktorin des Berliner SRH-Instituts für Nachhaltigkeitsmanagement und Professorin für Kommunikationsmanagement. Forbes nennt sie „Superwoman“, die Hypovereinsbank spricht von ihr als „eine der herausragenden Managerinnen und Unternehmerinnen Deutschlands“. Hier ihre Gedanken zu einem der zentralen Themen unserer Zeit: 

 

Nachhaltigkeit beginnt bei mir

Wie ein nachhaltiger Lebens- und Arbeitsstil unsere Zukunft gestaltet

 Nachhaltigkeit – ein Schlagwort, das in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Angesichts globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und sozialer Ungerechtigkeit wird ein nachhaltiger Lebens- und Arbeitsstil immer dringlicher. Doch wo fängt Nachhaltigkeit eigentlich an? Die Antwort ist einfach: Bei jedem Einzelnen von uns. In diesem Artikel werfen wir einen Blick darauf, wie wir im Alltag und am Arbeitsplatz aktiv zu einer nachhaltigeren Zukunft beitragen können.

  1. Nachhaltigkeit im persönlichen Lebensstil

 Bewusster Konsum – Schluss mit der Wegwerfmentalität!

In einer Welt, in der die Regale mit verlockenden Angeboten überquellen, ist bewusster Konsum der Schlüssel zur Veränderung. Vergessen Sie die Wegwerfmentalität und setzen Sie auf Nachhaltigkeit! Reduzieren Sie Einwegplastik und Verpackungsmüll, indem Sie auf wiederverwendbare Alternativen umsteigen. Es ist an der Zeit, die Umwelt nicht länger mit unserem sorglosen Konsum zu belasten.

Unterstützen Sie lokale Produkte und Fair-Trade-Initiativen. Wenn wir die Produktion in unserer unmittelbaren Umgebung fördern, unterstützen wir nicht nur unsere Wirtschaft, sondern reduzieren auch den ökologischen Fußabdruck durch lange Transportwege. Fair-Trade-Produkte gewährleisten faire Löhne und Arbeitsbedingungen. Machen Sie bewusste Kaufentscheidungen und lassen Sie Ihre Einkäufe zu einem Akt der Verantwortung werden!

Energieeffizienz und Ressourcenschonung – Zukunft gestalten durch clevere Praktiken!

 Verabschieden Sie sich von Energiefressern in Ihrem Zuhause! Energiesparen ist nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch für Ihren Geldbeutel. Schalten Sie Geräte aus, wenn sie nicht in Gebrauch sind, und setzen Sie auf energieeffiziente Technologien.

Nutzung erneuerbarer Energien ist der Weg in die Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Warum auf die Zukunft warten, wenn Sie schon heute auf Sonnen-, Wind- und Wasserkraft umsteigen können? Die Technologie steht bereit, wir müssen sie nur nutzen!

Recycling und Upcycling sind die Helden der Ressourcenschonung. Statt wertvolle Materialien zu verschwenden, geben Sie ihnen ein zweites Leben! Kreative Ideen und handwerkliches Geschick verwandeln scheinbar nutzlose Gegenstände in wertvolle Ressourcen. Werfen Sie nicht weg, was noch nützlich sein kann – machen Sie Recycling und Upcycling zu Ihrem Motto!

Mobilität und Verkehr – Mit umweltfreundlichen Optionen vorangehen!

 Steigen Sie um auf umweltfreundliche Verkehrsmittel! Nutzen Sie das Fahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr. Jeder Tritt in die Pedale und jeder Fahrschein sind ein Statement für eine sauberere Umwelt.

Carsharing und Elektromobilität sind die Zukunft der Fortbewegung. Warum ein eigenes Auto besitzen, wenn Sie es mit anderen teilen können? Carsharing spart Platz, Ressourcen und Geld. Elektroautos bieten eine emissionsfreie Alternative, die unsere Luftqualität und den Klimawandel positiv beeinflusst.

Langfristige Planung ist der Schlüssel zur nachhaltigen Verkehrsmittelwahl. Überdenken Sie Ihre Transportgewohnheiten und planen Sie Ihre Wege strategisch. Zusammen mit anderen nachhaltigen Verkehrsoptionen können Sie so einen großen Unterschied machen.

  1. Nachhaltiges Arbeiten

 In der modernen Arbeitswelt dreht sich nicht mehr alles nur um Umsatz und Gewinn. Nachhaltigkeit hat ihren Weg in die Unternehmenskultur gefunden und Unternehmen und Organisationen erkennen zunehmend die Bedeutung von Nachhaltigkeit und integrieren Nachhaltigkeitsziele in ihre Unternehmenskultur.

Nachhaltiges Büro

Weg mit dem Papierkram! Nachhaltige Arbeitsprozesse stehen im Fokus. Die Reduzierung von Papierverbrauch und Büromaterialien ist nur der Anfang. Energieeffiziente Büroausstattung und innovative Technologien sorgen für einen umweltbewussten Arbeitsplatz, der Ressourcen schont und Kosten senkt.

Doch damit nicht genug – Flexibilität ist Trumpf! Home-Office und flexible Arbeitsmodelle müssen gefördert werden, um den Pendelverkehr zu minimieren und den Mitarbeitenden eine bessere Work-Life-Balance zu ermöglichen. Das Wohl der Mitarbeiter steht im Vordergrund, denn zufriedene Mitarbeiter sind produktiver und leistungsstärker.

Chancengleichheit und Diversität – keine leeren Phrasen, sondern gelebte Realität am Arbeitsplatz! Unternehmen erkennen den Wert einer vielfältigen Belegschaft und setzen auf inklusive Strukturen, um das volle Potenzial aller Mitarbeiter zu entfalten.

Soziale Verantwortung muss großgeschrieben werden! Unternehmen zeigen Herz und engagieren sich für gemeinnützige Projekte und soziale Initiativen. Es geht nicht nur darum, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, sondern auch darum, einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu haben.

Nachhaltiges Arbeiten ist die Lösung für eine erfolgreiche, verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Unternehmenskultur. Machen wir gemeinsam den Unterschied – für uns und für die kommenden Generationen!

  1. Nachhaltigkeit als Chance für die Zukunft

 Die Welt steht an einem Wendepunkt, und die Bedeutung von Nachhaltigkeit für die globale Entwicklung kann nicht länger ignoriert werden. Wenn wir weiterhin den Kurs der rücksichtslosen Ausbeutung unserer Ressourcen und der Umwelt halten, stehen wir vor einer düsteren Zukunft. Doch es gibt Hoffnung, und diese liegt in einem nachhaltigen Lebensstil.

Schon jetzt zeigen sich die positiven Effekte eines nachhaltigen Umdenkens. Wenn wir bewusster konsumieren, unseren Energieverbrauch reduzieren und umweltfreundliche Verkehrsmittel wählen, verringern wir unseren ökologischen Fußabdruck erheblich. Jeder Schritt zählt, und gemeinsam können wir einen großen Beitrag zur Bewahrung unseres Planeten leisten.

Doch Nachhaltigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Umwelt. Ein nachhaltiger Lebens- und Arbeitsstil hat auch positive Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Indem wir uns für nachhaltige Werte und soziale Gerechtigkeit am Arbeitsplatz einsetzen, gestalten wir eine Gesellschaft, in der alle gleichermaßen eine Chance haben, erfolgreich zu sein.

Die Rolle des Einzelnen als Botschafter für eine nachhaltige Zukunft ist entscheidend. Jeder von uns kann ein Vorbild sein und andere inspirieren, nachhaltige Praktiken zu übernehmen. Ob in unserem Freundeskreis, in der Familie oder am Arbeitsplatz – unsere Entscheidungen und Handlungen haben eine Wirkung, die über unser eigenes Leben hinausgeht. Indem wir unsere Stimme erheben und für Nachhaltigkeit eintreten, können wir eine Bewegung in Gang setzen, die nicht zu stoppen ist.

Die Zeit drängt, und es liegt an uns, die Chance für eine lebenswerte Zukunft zu ergreifen. Lasst uns gemeinsam den Weg der Nachhaltigkeit einschlagen und den Wandel vorantreiben, den unsere Welt so dringend braucht. Jeder Schritt zählt, und jeder von uns hat die Macht, die Zukunft zu gestalten. Lasst uns Botschafter der Nachhaltigkeit sein und unsere Welt für kommende Generationen lebenswert erhalten. Die Zeit zum Handeln ist jetzt!

Prof. Dr. Anabel Ternès

Instituts für Nachhaltigkeitsmanagement, Berlin

Mitglied im Club of Rome Carnuntum

 

Prof. Dr. Anabel Ternès gilt als eine der führenden Köpfe für Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Forbes nennt sie „Superwoman“, die Hypovereinsbank spricht von ihr als „eine der herausragenden Managerinnen und Unternehmerinnen Deutschlands“.

Die geschäftsführende Direktorin des Berliner SRH-Instituts für Nachhaltigkeitsmanagement und Professorin für Kommunikationsmanagement hat sich einen Namen als Zukunftsforscherin, Keynote Speakerin, Autorin und Gründerin nachhaltiger Startups gemacht.

Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin von GetYourWings, dem Lernraum für ZukunftsgestalterInnen, bei dem Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Future Skills im Mittelpunkt stehen, wie bei dem preisgekrönten Online Lernspiel CODE AND SAFE THE PLANET. Sie gründete u. a. HealthMedo, einen Plattform-Anbieter mit Schwerpunkt auf Angeboten für mentale Gesundheit und medizinische Anwendungen, und CoCarrier, eine nachhaltige Crowd Shipping Logistik-Lösung.

Sie hat langjährige internationale Führungserfahrung im Business Development von Konsumgüter-Unternehmen, darunter für Triumph, Samsonite und Fielmann. Anabel Ternès engagiert sich in mehreren Gremien und Boards, darunter als Beirätin von Plant for the Planet, als BITKOM AK Vorständin New Work, als Präsidentin des Club of Budapest Germany und als Partnermitglied der UN Oceandecade.

Anabel Ternès wurde für ihr unternehmerisches und ehrenamtliches Engagement mehrfach national und international ausgezeichnet, darunter mit dem Award CEO eLearning of the Year, als Botschafterin der Frauen Unternehmen-Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums, mit dem Google Impact Challenge, als LinkedIn Top Voice Nachhaltigkeit und Xing Insider Nachhaltigkeit & Digitalisierung.

Sie ist Fellow mehrerer Organisationen darunter der Aspen Foundation, des Open Transfer Accelerator und Nexus Global.

Mehr zu Anabel Ternès, zu ihren Angeboten und Veröffentlichungen: https://anabelternes.de/

 

 

Schluss mit den moralischen Gesten!

GASTKOMMENTAR von Leander Steinkopf – NZZ, 12.8.2023:

Schluss mit den moralischen Gesten!

Die willkürlichen Regeln der Klimaschützer bringen nichts und spalten die Gesellschaft.

Ist es tatsächlich besser, auf dem Transatlantikflug ein Buch über die Klimakrise zu lesen als den Sommer Fleisch grillierend im Schrebergarten zu verbringen?

Neulich auf einer Abendveranstaltung unter Literaten. Drinnen war die Lesung langweilig, weshalb sich immer mehr Leute draußen drängten. Ich kam mit einer jungen Erfolgsautorin ins Gespräch, weil sie sich über das Etablissement ärgerte, das für den Event ausgewählt worden war. Wie man hier denn eine Veranstaltung machen könne, empörte sie sich, die hätten ja sogar Tatar auf der Karte!

Ich war gerade von einem längeren Aufenthalt in Polen zurück, bei dem es mir durchaus gefallen hatte, dass dort – neben Bigos, Borschtsch und Pierogi – Tatar zu den Standardgerichten einfacher Lokale gehört. Diese Gerichte waren mir gemütlich und liebenswert erschienen, eher besänftigender «Soul Food» als Nahrung, die Empörung auslöst. Ich verstand die Verärgerung nicht. Gab es etwa eine direkte Verbindung vom Faschierten zum Faschismus?

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Woran wir ein zukunftsfähiges Dorf erkennen

Woran wir ein zukunftsfähiges Dorf erkennen: Von Reinsberg lernen

Veröffentlicht am 24. Juni 2022

von Stefan Hackl, Geschäftsführer bei Eisenstraße Niederösterreich.

 

Vorbemerkung Hans Rupp:

Starker Artikel. Eine Expertise und eine Analyse, wie sie nur von jemandem sein kann, der VERBUNDEN ist. Ich meine: Pflichtlektüre für alle regionalen und lokalen Gestalter*innen!

 

Ein Dorf ist die ideale Einheit, um die Welt zu einem besseren Platz zu machen. Dieser Satz kam mir in dem Sinn, als ich am vergangenen Sonntag der Eröffnung des neuen Dorfzentrums in der 1.000-EinwohnerInnen-Gemeinde Reinsberg in Niederösterreich beiwohnen durfte. Ich habe selten so viel Zuversicht, Talent, Engagement und Stolz – gebündelt an einem Ort – gesehen.

In einem 10-jährigen Prozess hat es die kleine Ortschaft geschafft, ihrem Ortskern ein komplett neues Gesicht zu geben: mit einem mit 40.000 Schindeln bedeckten Kulturhaus namens MUSIUM, mit einem zu 100 Prozent aus EU- und Landesmittel finanzierten Kindergarten, mit einer frisch restaurierten Kirche und einem Dorfplatz, der all das miteinander verbindet. Das ist noch nicht alles: Heuer wird mit dem Neubau des auf Vereinsbasis geführten Nahversorgers begonnen und ein betreutes Wohnhaus mit 24 Einheiten wird zeitnah ebenfalls mitten im Ort aus dem Boden wachsen.

Wie schaffen das die Reinsberger, die schon vor mehr als 20 Jahren den Europäischen Dorferneuerungspreis gewonnen haben und in deren Gemeinde so viele junge Menschen wie in keinem anderen Ort der Umgebung leben? Und vor allem: Was können wir von Reinsberg lernen? Lassen sich aus dem Reinsberger Modus operandi Punkte ableiten, die zukunftsfähige Gemeinden auszeichnen?

Die Reinsberger sind nicht digitaler, progressiver, reicher oder innovativer als andere Orte. Ich glaube, sie und andere zukunftsfähige Dörfer zeichnen sich stattdessen durch eine Kombination von sechs durchaus traditionellen Merkmalen aus, die miteinander eine unglaubliche positive Gestaltungskraft entfalten und zu einem hohen Maß an Zukunftsfähigkeit führen. 

Diese sechs Faktoren sind wie Stellschrauben, an denen Gemeindeverantwortliche drehen können, um Innovationen zu ermöglichen oder um Blockaden zu lösen:

  1. TALENT

Leitfrage: Gelingt es uns, die Talente unserer Dorfgemeinschaft zu nutzen?

Dieser Punkt reicht weit über die herkömmlichen Vorstellungen von Bürgerbeteiligung hinaus. Es geht nicht bloß darum, BürgerInnen im Rahmen einer Zukunftswerkstatt oder ähnlicher Formate punktuell abzuholen, einzubinden, zu befragen. Zukunftsfähige Dörfer machen das auch, aber sie schaffen es darüber hinaus, die Talente, Spezialisierungen und Fertigkeiten ihrer Dorfgemeinschaft viel regelmäßiger und intensiver zu nutzen und inwertzusetzen.

Ein Beispiel: Bei der Eröffnung des Reinsberger Kulturhauses wurde ein professionell geschnittener, mit Drohnenaufnahmen gespickter Zeitraffer-Film über die Baustelle gezeigt, in atemberaubenden Perspektiven, sodass man ein großes Filmteam dahinter vermuten würde. Gestaltet hat es aber ein Mitglied aus der Dorfgemeinschaft, in dem er sein Talent als Videoproducer eingebracht hat.

Dutzende weitere solcher Beispiele könnte man für Reinsberg anführen und sie allesamt zeigen: Ein zukunftsfähiges Dorf hofft nicht auf das indifferente Engagement seiner BürgerInnen, es engagiert sie. Aktiv und konkret. Und diese bringen ihre Talente und Fertigkeiten gerne ein. So wird das Dorf zur kollaborativen Unternehmung mit einem Überangebot an Talenten.

Wenn Sie also auf die Frage, wer in Ihrem Dorf in bestimmten Bereichen wirklich spitze und herausragend ist, wenige Antworten wissen oder wenn Sie die Exzellenz und das Engagement dieser Menschen in Projekten oder Veranstaltungen noch zu wenig nutzen, dann besteht Handlungsbedarf.

  1. AGENDA

Leitfrage: Arbeiten wir an Vorhaben, die uns nach vorne bringen und wachsen lassen, die ehrgeiziger und größer als das Tagesgeschäft sind, an Dingen, mit denen sich Menschen identifizieren können?

Zukunftsfähige Dörfer besitzen die Fähigkeit, ihre Energie auf einige wenige Dinge hin zu bündeln. Sie schaffen es, eine Agenda aufzustellen und durchzusetzen, in der die „größtmögliche gemeinsame Herausforderung“ im Mittelpunkt steht (eine wunderschöne Formulierung von Christoph Engl, dem Mastermind der Marke Südtirol und heutigen Oberalp-CEO).

Der Reinsberger Gemeinderat hat 2012/2013 diese „größtmögliche gemeinsame Herausforderung“ für das Dorf identifiziert: die Neugestaltung der Dorfmitte mit einem Investitionsvolumen von 10 bis 12 Millionen Euro. Das mag damals größenwahnsinnig geklungen haben, wie sich Bürgermeister Franz Faschingleitner bei der Eröffnung erinnerte, aber es war eine lohnenswerte Agenda, die mitriss.

Ein zukunftsfähiges Dorf ist demnach an ihrer Agenda, ihrer Projektliste zu erkennen. Es arbeitet immer an etwas Großem, Bedeutungsvollen für die eigene Dorfgemeinschaft und hat den Mut, dem weniger Bedeutsamen weniger Beachtung zu schenken. Ist der eine große Brocken geschafft, hat es schon den nächsten im Blick. 

Wenn die Agenda Ihrer Gemeinde nur in der Abwicklung des Tagesgeschäfts besteht, dann haben Sie in diesem Punkt ein deutliches Defizit. Fragen Sie sich: Gibt es ein oder mehrere Projekte, hinter dem sich viele Menschen unserer Gemeinde versammeln, das vielen von uns wichtig ist? Sind wir bereit, Großes anzupacken und dabei auch ein Risiko einzugehen?

  1. HALTUNG

Leitfrage: Sind wir genügend selbstbewusst und ausreichend selbstkritisch?

Zukunftsfähigen Dörfern mag es mitunter an finanziellen Mitteln mangeln, an einem fehlt es ihnen bestimmt nicht: an Selbstbewusstsein. Die Einwohnerinnen und Einwohner sind stolz, Teil dieser Gemeinde zu sein und sie scheuen sich auch nicht davor, das sehr klar zu artikulieren. Beim Festakt in Reinsberg hörte ich nicht nur einmal, dass die Gemeinschaft in Reinsberg etwas Besonderes sei.

Zukunftsfähige Orte brauchen genau diese innere Überzeugtheit und diese positive Grundhaltung: Dort, wo andere jammern, packen sie an. Dort, wo andere resignieren, fangen sie erst richtig an.

Stagnierende oder gar resignierende Dörfer haben diese Qualität nicht: Hier regiert eine latent-depressive Grundstimmung: Wir verlieren, wir geraten ins Hintertreffen, heute ist es schlechter als gestern und morgen wird es noch trostloser als heute sein.

Mit bloßer „Mia san mia“-Mentalität darf man diesen selbstbewussten Charakterzug von zukunftsfähigen Dörfern nicht verwechseln. Stolz geht hier mit einer gesunden Portion Selbstkritik einher. Als der Reinsberger Bürgermeister Franz Faschingleitner die Projektgeschichte vom Dorfzentrum erzählte, klang das nicht nach einer schöngefärbten Jubeladresse, sondern nach einer Darstellung mit vielen Höhen und Tiefen.

Ein zukunftsfähiges Dorf sieht sich bei all den Schwierigkeiten und Herausforderungen immer selbst am Steuer – und nicht auf dem Schleudersitz der Geschichte. Mit diesem Vertrauen ausgestattet fällt es bedeutend leichter, Risiken einzugehen und Großes zu wagen (siehe Agenda).

Ein Lackmustest für die Haltung eines Dorfs ist oft das örtliche Diskussionsforum auf Social Media: Überwiegen hier die konkreten Tipps, die zu Handlungen motivierenden Beiträge oder jene des passiven Beklagens?

  1. ANBINDUNG

Leitfrage: Sind wir mit der Welt verbunden?

Ein zukunftsfähiges Dorf ist keine Insel, keine in sich-gekehrte heile Welt. Vielmehr versteht es meisterlich, sich in Netzwerke auf allen möglichen Ebenen einzuklinken. Wieder Reinsberg: Den ersten Plan für die neue Dorfmitte schmiedete die Dorfgemeinschaft mit dem international renommierten Architekturbüro nonconform. Den Tipp für die 100-Prozent-EU-Förderung erhielt der Bürgermeister von einem Landtagsabgeordneten.

Die Offenheit für neue Impulse, das Hereinholen externer Expertise bewahrt vor Engstirnigkeit und es erhöht die Umsetzungschancen und die Umsetzungsqualität der gemeinsamen Agenda.

Viel ist von der Breitbanderschließung des ländlichen Raums die Rede, aber die intellektuelle Anbindung eines Dorfs an die Welt ist ebenso, wenn nicht sogar noch wichtiger als ein 100-Mbit-Anschluss. Zweiterer kommt in der richtigen Konstellation gleichsam wie von selbst.

Woran sehe ich, ob mein Dorf „connected“ ist? Ein zukunftsfähiges Dorf ist in einem steten Austausch mit Schlüsselpersonen und -institutionen in dessen Region, Bundesland und darüberhinaus. 

  1. WIR-MOMENTE

Leitfrage: Gibt es ausreichend Möglichkeiten der Begegnung, des gemeinsamen Feierns?

Am Eingang zum Festgelände in Reinsberg traf ich auf eine Bekannte, die freudig sagte: „Wir Reinsberger können halt feiern. Da können sich andere was abschauen!“ Da ist es wieder, das nicht zu klein geratene Selbstbewusstsein, aber in der Aussage verbirgt sich noch eine andere Qualität zukunftsfähiger Dörfer: Sie verstehen es, Wir-Momente zu schaffen – und das nicht als einmalige Kraftanstrengung (etwa zu einem Spatenstich), sondern in Serie geschaltet. So gibt es in Reinsberg die legendären Reinsberger Nächte, die Dorfweihnacht, das Dorffest …

Ein zukunftsfähiges Dorf kommt gerne und regelmäßig zusammen –  bei Veranstaltungen, aber auch durch die Gestaltung des Ortsbildes und das Schaffen von Begegnungsräumen.

Das Dorf kompensiert mit diesen Wir-Momenten die im Vergleich zu urbanen Räumen fehlende Dichte und schafft es auf diese Weise, neben dem Gemeinschaftsgefühl auch die Chance auf zufällige Begegnungen zu erhöhen. Und gerade diese sind es oft, die Neues entstehen lassen.

Wie ausgeprägt die Wir-Momente in meinem Dorf sind, lässt sich mit einer einfachen Frage erkunden: Hat unsere Dorfgemeinschaft derzeit genügend Gelegenheiten, sich zu treffen – bewusst und unbewusst?

  1. UNSERE ROLLE IN DER WELT

Leitfrage: Bringen wir etwas hervor, das auch für andere einen Mehrwert bringt? Sind wir relevant für die Welt um uns herum?

Diesen letzten Punkt finde ich besonders wichtig und er ist von der Purpose-Diskussion in der Wirtschaft inspiriert. Wozu ist unser Dorf in der Welt? Genügen wir uns selbst oder leisten wir darüber hinausgehend einen Beitrag?

Zukunftsfähige Dörfer haben Relevanz – auch in der Welt um sie herum. Reinsberg hat es geschafft, als Kulturdorf Kompetenz aufzubauen – zunächst mit der Burgarena, nun auch mit dem MUSIUM. Wenn Menschen Kunst und Kultur erfahren möchten, ist Reinsberg ein guter Platz für sie. Viele haben Reinsberg für diese Qualität kennen und schätzen gelernt.

Diese Differenzierung ist nicht mit der krampfhaften Suche nach einem Thema zu verwechseln, das sonst noch keiner besetzt hat (Stichwort Themendorf). Im Gegenteil: Zukunftsfähige Dörfer verfügen über ihnen eigene Qualitäten, die wertvoll auch für andere Menschen sind – durch eine besondere Geografie, durch eine besondere Fertigkeit oder eine spezielle Infrastruktur. In diesem Sinne teilen zukunftsfähige Dörfer gerne mit anderen, da ihnen ihre Rolle in der Welt bewusst ist und auch die Verantwortung, die damit verbunden ist. Denn es würde auch den anderen etwas fehlen, wenn das Dorf nicht mehr da wäre.

Sie können Sich also fragen: Gibt es in meinem Dorf etwas, was auch anderen Nutzen stiftet und kümmere ich mich ausreichend um diese Qualität?

 

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Zukunftsfähige Gemeinden sind keine Wunderwuzzis. Sie durchleben genauso Krisenphasen (frag Reinsberg), sie straucheln, sie kämpfen mit sich und anderen. Aber sie zeichnet eines aus: Sie machen bei folgenden Punkten öfters das Richtige als das Falsche:

  1. Talent
  2. Agenda
  3. Haltung
  4. Anbindung
  5. Wir-Momente
  6. Unsere Rolle in der Welt

Das führt uns zu einer sehr positiven Zukunftsperspektive:

Wenn wir an den richtigen Schrauben drehen, wird das Dorf im ländlichen Raum zur idealen „Organisationseinheit“, um den lokalen und globalen Herausforderungen zu begegnen. 

Nichts ist positiver und sinnstiftender für die Gestaltung unserer Welt von heute und morgen als ein Dorf, das auf Zukunftsfähigkeit ausgerichtet ist.

https://www.linkedin.com/in/stefan-hackl-728915173/

 

Bild:

Dorffest 2022 – Eröffnung des Musiums, Kindergarten und Dorfplatz Reinsberg, 19. Juni 2022

Foto: Gerald Prüller / Cleanhill Studios